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Archiv der Kategorie ‘Integration‘

24. September 2013 13:23:03

… eine Zumutung: Auf der Berlin Art Week kann man einfach alles machen

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Selbst üble Beleidigungen gehen auf der Berlin Art Week als Kunst durch. Mit dem leuchtend gelben Guerilla-Koffer für das English Theatre Berlin konnten wir auf der Preview kaum Anstoß erzeugen. Nur zwei Leute, eine Französin und eine Japanerin fühlten sich von dem Titel des Theaterstücks „ECHTER BERLINER !!!! IHR NICHT FUCK YOU“ mäßig herausgefordert. So konnten wir zumindest ein paar Mal unsere Botschaft bei der Zielgruppe loswerden: Jetzt läuft eine dokumentarische Theaterperformance, in der Originalzitate von 60 in Berlin lebenden „Expats“ und „Immigranten“ verarbeitet wurden. Es ist teils erschreckend aber auch merkwürdig anrührend, was der als „Ausländer“ zusammengefassten Gruppe hier an patzigem Lokalpatriotismus entgegenschlägt.

Ganz anders war dagegen die Reaktion auf der Straße: Wir waren keine 50 Meter vom Gelände der Preview runter, schon hatten wir muntere Diskussionen am Hals. „Seid ihr überhaupt echte Berliner, so wie ich?“ Da merkte dann sofort, dass das Thema britzelige Relevanz in unseren Kiezen hat.

 

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1. September 2013 12:18:16

… leselustig: Mathias Énard beim 13. internationalen literaturfestival berlin

Mut zum Experimentellen bewies Mathias Énard 2008 mit Zone. Für die sympathische Novelle Erzähl ihnen von Schlachten, Königen und Elefanten erhielt er 2010 den Prix Goncourt des lycéens. Sein Roman Remonter l’Orénoque aus dem Jahr 2005 wurde 2012 von Marion Laine mit Juliette Binouche und Edgar Ramirez unter dem Titel A coeur ouvert verfilmt.

Vielfalt ist also ein Kennzeichen des französischen Autors und aktuellen DAAD-Gastes, der 1972 in Niort/Frankreich geboren wurde und zurzeit in Berlin lebt. So wundert es nicht, dass sein jüngstes Buch eine sehr politische Geschichte um Flucht, Migration und Marginalisierung ist. Sie spielt in Tanger und Barcelona und erzählt von Träumen und Hoffnungen, die sich nie erfüllen werden. Dennoch ist Straße der Diebe kein deprimierendes Buch. Enard scheint existenzialistisch inspiriert: Seine Helden leben dennoch, trotz aller Schicksalsschläge, trotz absurder Verwicklungen, aus denen es kein Entrinnen zu geben scheint.

Sein Protagonist, Lakhdar, der wegen einer jugendlichen Affäre mit seiner Cousine Meryem von seiner Familie verstoßen wird, schließt sich, gemeinsam mit dem naiv-gemütlichen Nachbarssohn Bassam, Sheikh Nourredines „Gruppe für die Verbreitung koranischen Denkens“ an. Doch weitaus weniger radikal als der Jugendfreund, und entsetzt von der fundamentalistischen Gewalt, für die die islamistische Szene steht, wendet er sich bald wieder seinem eigentlichen Ziel zu: Krimis und Europa. Als er die spanische Studentin Judit aus Barcelona kennenlernt, scheint sein Traum wahr werden zu können. Doch illegal in Europa ist keine wirklich Perspektive. So verdingt sich Lakhdar zunächst bei einem französischen Raubkopierer, der seine Leidenschaft für das Genre Noir teilt; dann heuert er auf einer Fähre an, die täglich die Strecke Tanger-Tarifa fährt. Als die Reederei Konkurs anmeldet, und das Schiff den Hafen von Algeciras nicht mehr verlassen darf, wagt Lakhdar endlich den Schritt auf den nahen und doch so fernen Kontinent. Und landet schließlich – ohne Papiere und verfolgt von der Polizei – in Barcelona, in der „Straße der Diebe“. Ob Judit, die mittlerweile zur militanten Aktivistin der Indignados wurde, ihn noch liebt, ist ungewiss. Als Bassam und Sheikh Nourredine aus dem fern gewordenen Orient ebenfalls in Spanien eintreffen, scheint der Showdown fast unausweichlich …

Mathias Énard ist ein wunderbarer Erzähler. Seine Worte und Beschreibungen lassen Menschen, nicht Klischees, vor den Augen der Leserin entstehen. Und darum geht es auch. Straße der Diebe ist ein Appell, wenn es sein muss auch gegen Windmühlenflügel zu kämpfen, und sich dabei nicht zu verlieren. Während Bassam zur Marionette der Islamisten wird, geht Lakhdar einen anderen, besonnenen, ehrlicheren Weg: „Ich bin kein Mörder, ich bin mehr als das. Ich bin kein Marokkaner, kein Franzose, kein Spanier, ich bin mehr als das. Ich bin kein Muslim, ich bin mehr als das. Machen Sie mit mir, was Sie wollen.“

Énard hat eine kluge Parabel über die Kraft der Nachdenklichkeit und den aufrechten Gang geschrieben. Mehr davon , bitte schön.

Mathias Énard liest am 11.9. um 21.00 Uhr beim ilb 2013.

 

 

26. August 2013 00:36:19

… leselustig: Raquel Palacio beim 13. internationalen literaturfestival berlin

Der zehnjährige August „Auggie“ Pullman ist ein smarter Junge, mutig, humorvoll, umgänglich. Eigentlich gäbe es keinen Grund dafür, dass er nur schwer Freunde findet oder dafür, dass er überhaupt erst mit zehn eingeschult wird. Und doch unterrichtete seine Mutter Isabel ihn zuhause so lange es irgend ging. Denn August ist mit einem genetischen Defekt geboren, und hat, trotz mittlerweile 27 Operationen, ein Gesicht, das so hässlich ist, dass andere Kinder vor ihm Angst haben oder ihn schlicht verspotten. So wundern sich weder seine Eltern, noch seine große Schwester Olivia („Via“) oder Mr. Tushman, der Schulleiter, dass er nur zögerlich einwilligt, doch letztlich zur Schule zu gehen. Und seine ersten Erfahrungen dort scheinen ihm Recht zu geben: Nur ein Mädchen, Summer, setzt sich beim Mittagsessen in der Schulkantine zu ihm, und nur Jack Will scheint sein Freund werden zu wollen. Die anderen, allen voran der arrogante Julian, meiden oder quälen ihn. In einem perversen Spiel, das sie „Pest“ nennen, bemühen sich seine Mitschüler, jede Berührung mit August zu vermeiden. Wem das nicht gelingt, muss sich schleunigst die Hände waschen. Da kann auch die zärtliche Nähe zu Daisy, der alten Hündin der Familie, kaum Trost spenden.

Behutsam, bewegend und trotz des traurigen Sujets mit Witz und pfiffiger Ironie erzählt Raquel Palacio in Wunder eine Geschichte mit einem glücklichen Ende. Dabei wechseln sich ihre Ich-Erzähler ab: August selbst erzählt, dann aber auch Via, Summer, Jack, Justin, Vias Freund, und Miranda, ihre Freundin. Und so entsteht ein perspektivenreiches Panorama, das dieses Kinder-/Jugendbuch, trotz des didaktischen Ansatzes, zu einem echten „page turner“ macht. Wunder ist die Geschichte eines Außenseiters, der mit Mut und Intelligenz seinen Platz im Leben sucht und behauptet. Gegen alle Widrigkeiten. Die Autorin, im wahren Leben Grafikerin und Leiterin der Kinderbuchabteilung bei Workman Publishing in New York (Raquel Jaramillo ist ihr richtiger Name) ist davon überzeugt, dass man viel mehr schaffen kann, als man glaubt, wenn man nicht aufgibt. Ein optimistisches Buch, das sehr viel Hoffnung macht. Und ein großer – leidenschaftlicher – Lesegenuss dazu.

Raquel Palacio liest beim 13. internationalen literaturfestival berlin. Am Montag, 26.8. um 19.30 in der Georg-Büchner-Buchhandlung am Kollwitzplatz, und am Dienstag, 27.8. um 9.30 im Haus der Berliner Festspiele.

Raquel Palacio, Wonder

 

 

22. März 2012 11:23:14

… übersetzt und andere Worte

Eine Ausstellung in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst und im Kunstraum Kreuzberg
Noch bis zum 15. April präsentieren die NGBK und der Kunstraum Kreuzberg im Bethanien In anderen Worten, ein Schwarzmarkt der Übersetzungen mit Arbeiten von 44 teils in Berlin lebenden internationalen Künstler_innen. Sie thematisieren kulturelle Isolation und Sprache als Herrschaftsinstrument, die sichtbaren und weniger sichtbaren Dimensionen der Vermittlung von sprach- und kulturübergreifenden Botschaften. Dabei macht die Vielfalt der gewählten Medien den performativen Reiz der Schau aus, die sich selbst wiederum im spezifischen Umfeld von Berlin-Kreuzberg als Bühne multikulturell gelebter Begegnung verortet. Den Kurator_innen geht es um Sprache – und Übersetzung – mit Blick auf Dominanz und „Minderheiten“ ebenso wie als schlicht hingenommene Gewohnheit (James Webb, Know Thy Worth), als stilprägende Microsoft-Ikone (Detanico Lain, New Roman Times), als Pseudoidentität (Graciela Guerrero Weisson, Karaoke) oder professionelle Konfusion, deren Zweck darin liegt, Klarheit zu schaffen (Christoph Keller, Interpreters, und Ofir Feldman, WordBank). 7500 Steine, die Paolo W. Tamburella für World Languages im Raum auslegt, stehen für alle lebenden Sprachen, die jeweils für sich existieren, und doch Berührungspunkte haben. Sie kontrastieren mit Miguel Monroys Installation Equivalente – Belege aus Wechselstuben, in denen der Künstler so lange Pesos gegen Euros tauschte, bis die Provision, die dafür zu zahlen war, sein Geld aufzehrt.

Doch Sprache ist mehr als Worte, wie Maria Teresa Sartori in The Sound of Language akustisch belegt: Elf Enzyklopädien und Kopfhörer vermitteln den Klang verschiedener Sprachen, ohne dass man die Worte entschlüsseln könnte.

Im Verweis auf die Produktion neuer Sprachen und neues Schreiben inszeniert In anderen Worten Sprache schließlich auch als subversiven Gegenpol zum Bestehenden oder Gesehenen. Das scheinbar Simple – automatisiertes, maschinengeneriertes Schreiben oder Übersetzungen made by Google – erweist sich in Demian Schopfs Máquina Cóndor und Lorenzo Scotto Di Luzios Babbling Google als sinnlos. Der Übersetzer wird zum Retter (toter Sprachen), der er allein kann sie noch verstehen. Und so widmet Braco Dimitrijevic (1994) ihm ein Tafelbild aus Lettern: „Es lebte einst ein Übersetzer, der keine Fremdsprache beherrschte. … Er übersetzte nicht von einer Sprache in eine andere, sondern von einer in eine andere Zeit.“

Zu dieser inspirierenden Schau erschien ein zweisprachiger Katalog (deutsch/englisch). Mehr unter: www.ngbk.de.

 

 

8. März 2011 20:08:31

… Augenblicke: Fahrradgeschichten

Er war mit Fahrrad, Quast und einem Eimer voller Leim in der Torstraße unterwegs, aber angesprochen habe ich ihn wegen seines offenen Gesichts. Der Mann – er räumte mir fünf Minuten ein, es wurden dann aber ein paar mehr – war mit einem braun-beige quergestreiften Pullover, der seine hagere Figur umhüllte, bekleidet. Das längliche Gesicht mit dem Fünftagebart und der schon etwas lichten Kopfbehaarung erinnerte mich ein wenig an die Heiligenbilder des spanischen Malers El Greco. Francisco stammt nun tatsächlich aus Almeria/Spanien und lebt, zusammen mit seiner deutschen Freundin und ihrem gemeinsamen „Berliner Baby“, wie er freudestrahlend formulierte, seit zwei Jahren in der Stadt. Er wohnt in Prenzlauer Berg, wo es ihm gut gefällt. Sein Deutsch, obwohl wir uns ganz passabel verständigen konnten, klingt noch etwas lückenhaft und kann weitere Sprachpraxis sicher vertragen. Von Beruf ist der junge Mann (Jahrgang 1976) eigentlich Klimaanlagenmonteur – die Arbeitsplatzsituation in seiner Heimat wäre zur Zeit kompliziert -, hat aber auch schon als Hausmeister gearbeitet. Hier in Berlin klebt er nun – angestellt bei einer Firma – zunächst einmal für sechs bis acht Stunden pro Tag (acht Euro/Stunde) Plakate. Wenn ich richtig informiert bin, werden aber Klimamonteure zur Zeit hier wirklich gesucht – besonders interessiert Francisco aber die Solartechnik.

Beide waren mit dem Fahrrad zum Bäcker gekommen, sprachen ausschließlich russisch und setzten sich an den Nachbartisch. Der Vater, um die 35 Jahre alt, der Sohn vielleicht schon sechs Jahre auf dieser Welt. Obwohl ich neugierig zu ihnen rübersah, erwiderten sie meinen Kontaktblick keineswegs. Der Mann hatte ein, ja, mädchenhaftes, ebenmäßiges Gesicht und sprach mit sanfter Stimme auf seinen Sohn ein, der sich nicht entscheiden konnte, welchen Pfannkuchen er nun wollte. Zuerst: Ich will nicht – dann aber zu dem mit Schokolade: Ich will. Der Junge sprach laut, fast ein wenig herrisch – vom Vater konnte er das nicht haben. Blieb also nur die (nicht anwesende) Mutter.

Schon immer wollte ich mal einen Fahrradkurier befragen – und nun kam einer in’s Cafe und machte Pause. Richard, 44 Jahre alt, sprach deutsch mit einem Akzent. Bevor ich selber drauf kam, erzählte er mir, dass er in der Tschechoslowakei geboren, aber nunmehr Schweizer Staatsbürger sei. Sein Vater ging 1968 (nicht aus politischen Gründen) in die Schweiz. Frau und Sohn Richard wurden nachgeholt. Seit zwei Jahren fährt der drahtig und frisch wirkende Mann durch die Stadt, auch im Winter (ohne Erschwerniszulage), im Schnitt so an die 80 km pro Tag. Er arbeitet als Selbständiger, zusammen mit ca. 60 Kollegen. Seine Aufträge, über Sprechfunk – das Gerät blieb während unseres Gesprächs eingeschaltet – erteilt, führen ihn kreuz und quer, wenn es sein muss, von Zehlendorf nach Pankow. Für ihn ist dieser harte Job eine Selbsterfahrung, eine Berufung eher nicht. Dennoch, meint er, kann man davon leben, zumal er mit zwei anderen zusammen in einer WG in, richtig, Prenzlauer Berg wohnt. Richard ist von Beruf Lehrer für Kunst/Kunsthandwerk und wird wohl in Kürze hier in der Stadt, die ihm ausnehmend gut gefällt, wieder in sein Metier zurückkehren. Er wirkte durchaus nicht gestresst, antwortete auf meine Fragen sehr überlegt; es wäre interessant gewesen, das Gespräch fortzusetzen, aber wir mussten beide wieder weiter.

 

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26. Dezember 2010 02:01:40

… nicht Sarrazinland: Genetik, Religion und Teihabegerechtigkeit

jon beckwith about sarrazin

Vorhin sah ich die Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten zwischen all den staatstragenden „Ehrenamtlichen“ und da fühlte auch ich mich von den warmen Worten angesprochen, ein paar abschließende Gedanken zusammenzufassen.

Der folgende Text bezieht sich auf verschiedene Gegebenheiten, Sendungen und Events, die alle schon ein bisschen länger zurückliegen, doch deren thematischer Zusammenhang am Ende dieses Jahres so aktuell ist wie nie. Bei den Veranstaltungen in Berlin war ich selbst in geringem Umfang beteiligt, oder zumindest anwesend, so dass ich mir erlaube aus eigener Sicht einen Beitrag zum großen Debattenthema des Jahres 2010 zu leisten. Das Thema könnte lauten: „Was wird aus dem unbestreitbaren Multikulti-Staat Deutschland?“ oder provozierend in sarrazinscher Manier: „Lassen sich Muslime in einen demokratischen Staat (wie die Bundesrepublik) integrieren?“ … Weiterlesen

 

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17. April 2009 23:02:45

… religiös bedenklich: Günter Jauch und andere Promis liegen freilich voll daneben

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So stimmen Sie richtig!

Lassen Sie sich nicht kirre machen!

Selbst mein im Allgemeinen sehr lebenskompetenter Nachbar, war von der Flut der freiheitlichen Plakatbotschaften im Berliner Stadtbild verwirrt. Was ist denn nun freiwillig, oder soll freiwillig werden? Was bedeutet freie Wahl? Was meinen die mit Pflicht, Wahlpflicht oder freiwilligem nebeneinander? Wer ist eigentlich wer und will was genau? Was bedeutet es mit Ja zu stimmen und was mit Nein?

Die Initiative Pro Reli hat es wirklich geschafft, die Stadt und ihre Bürger/innen mit einem Thema den Kopf zu verdrehen, das zum Glück bisher eher randständig war und es sicher nach dem 26. April auch wieder sein wird. Sie haben es fertig gebracht, genug Unterschriften zu sammeln, um die Berliner Gesamtgesellschaft zu einem Volksentscheid an die Urnen zu nötigen, um darüber abzustimmen, wie genau eine Detailregelung im Lehrplan der Berliner Schulen gestaltet werden soll.

Also, worum geht es eigentlich: Bisher wird in Berlin (anders und fortschrittlicher als in anderen Bundesländern) für alle Schulkinder ein Fach „Ethik“ gegeben, in dem die für alle Bürger gemeinsam geltenden Werte ihres Gemeinwesens gelehrt werden. In diesem Fach findet eine „Werteerziehung“ statt, die dazu führen soll, das alle zu mündigen und partizipierenden Mitgliedern der demokratischen Gesellschaft werden (können). Wie sollte man etwas dagegen haben (können)? (Siehe Artikel in der Süddeutschen Zeitung.)

Weil dieser Ethikunterricht für alle Kinder ein Pflichtfach ist und der konfessionelle Religionsunterricht an Berliner Schulen hingegen nur freiwillig und zusätzlich besucht werden kann, versuchen nun einige religiöse Gruppen (nicht alle!) den Religionsunterricht als gleichwertige Alternative zum Ethikunterricht zu positionieren. Die von ihnen gewünschte Regelung sieht die sogenannte „Wahlpflicht“ vor, wobei sich dann jedes Kind entscheiden müsste, ob es Ethik oder einen konfessionellen Religionsunterricht besuchen will. Tatsächlich werden natürlich die Eltern für die Kinder entscheiden, weshalb der Begriff „freie Wahl“, der nun überall auf den Plakaten von Pro Reli zu lesen ist, den Kindern wie Hohn in den Ohren klingen muss. „Freie Wahl“ im Sinne von Pro Reli bedeutet also, dass Eltern ihren Kindern vorschreiben werden, dass sie gefälligst den Glaubensunterricht über sich ergehen lassen, der den Glauben der Eltern lehrt. Das nennt Pro Reli dann Wertevermittlung und Klärung der eigenen Wurzeln.

Es ist das Ziel der religiösen Lobbyarbeit, uns allen einzureden, dass der Ethikunterricht in Opposition zum Religionsunterricht stehe. Ethikunterricht soll als Unterricht gegen Religionszugehörigkeit positioniert werden und man will uns glauben machen, dass sich darin eine intolerante Haltung des Staates gegenüber Religionen vermittle. Das ist natürlich gänzlich unwahr und genau das Gegenteil ist der richtig. Im Fach Ethik werden die demokratischen Grundwerte des Zusammenlebens vermittelt, so dass ein Tolerantes und respektables Miteinander und interkulturelles Verständnis möglich wird.

Man gehe also bitte den Konfessionellen mit ihrem „freie-Wahl-Gequatsche“ nicht auf den Leim:

Mit Ja stimmen bedeutet, man ist auf der Seite der Religiösen und will die Wahlpflicht zwischen konfessionellem Unterricht und Ethik einführen, was dazu führt, dass nicht mehr alle Kinder die für alle Staatsbürger gemeinsam geltenden Werte ihres Gemeinwesens gelehrt bekommen.

Mit Nein stimmen bedeutet, man ist auf der Seite der Demokraten und will an der bestehenden Regelung des Ethikunterichts für alle Kinder plus freiwilligem, zusätzlichen Kofessionsunterricht festhalten.

Die Ja-Stimme führt also dazu, dass der auch jetzt schon stattfindende Bekenntnisunterricht in den Rang einer gleichwertigen Alternative zum Ethikunterricht gehoben wird. Derzeit gibt es in Berlin schon freiwilligen evangelischen, katholischen, jüdischen, orthodoxen, sunnitischschiitischen, alevitischen und buddhistischen Religionsunterricht und das Fach Humanistische Lebenskunde. Alles von ordentlichen Lehrern unterrichtet, die von Steuergeldern bezahlt werden. Eine Aufwertung dieser Fächer zu optinalen Pflichtfächern kann kein Mensch wollen, dem daran gelegen ist, dass die in Berlin existierende multiethnische, multikonfessionelle und multikulturelle Gesellschaft friedlich zusammenlebt. Gemeinsam zu leben lernt man am besten gemeinsam. Wir brauchen den Ethikunterricht gegen die Segregationstendenzen konfesionell gebundener Menschen. Wir brauchen ihn um zu verhindern, dass wir irgendwann eine ähnliche Volksabstimmung bekommen, mit der etwa die Einführung der Sharia, der Hexenverfolgung oder des Ablasshandels unter dem Deckmatel der Mehrheitsdemokratie gefordert wird. Demokratie bedeutet eben nicht nur, dass die Mehrheit entscheidet, sondern sie hat einen gesamtgesellschaftlichen Impetus! Damit das verstanden wird, brauchen wir eine „Wertevermittlung“. Der Name dieser Wertevermittlung ist „Ethikunterricht“. Natürlich für alle ausnahmslos!

Es gibt übrigens zwei Wege, sich ethisch einwandfrei am 26. April zu verhalten: Entweder man geht zur Abstimmung und stimmt mit „Nein“ oder man geht einfach nicht hin und verhält sich ignorant gegenüber dem Anliegen von Pro Reli. Denn sollten insgesamt zu wenige Stimmen zusammenkommen, gilt das Volksbegehren als abgelehnt und alles bleibt, wie es sein soll. Sicherer ist es allerdings, die Nein-Stimme selbst in die Urne zu legen.

Und nun zur Kampagne der Glaubenskämpfer:

Die Prominenten, die sich vor den marketingmäßig perfekt gesteuerten, konfessionellen Karren spannen lassen, botschaften schon recht niederträchtig.

Der allseits beliebte Günter Jauch droht mit strengem Blick, mit dem er persönlich darüber entscheidet, wer das Zeug zum Millionär hat: „Sagen Sie nachher nicht, Sie wären nicht gefragt worden.“
Richtig ist, das man nachher nicht sagen sollte, man wäre nicht stark genug gewesen, dem moralischen Druck zu widerstehen. Glauben Sie es nicht, dass Religionsunterricht die gleichen Ziele verfolgen würde, wie der Ethikunterricht. Denn die geforderte Wahlpflicht wird dazu führen, dass alsbald auch noch die abwegigsten Glaubensrichtungen, ihrem heiligen Mumpitz als Wertevermittlung verkaufen können. Das mag meinetwegen bei ordentlichen Protestanten nicht weiter problematisch sein, aber was ist mit beispielsweise Taliban? Wo sollten wir denn legitimer Weise die Grenze beim Verbreiten der unterschiedlichen heiligen Lehren ziehen, wenn nicht bei der Frage nach der rechtstaatlichen und demokratischen Ausrichtung?

Tita von Hardenberg (Ex-Moderatorin der RBB-Sendung „Polylux“), gibt die Pro Reli-Parole aus: “Religionsunterricht als gleichberechtigtes Unterrichtsfach ist mir wichtig, weil jeder Mensch seine kulturellen Wurzeln kennen sollte und die Chance haben soll, die eigene und andere Religionen zu verstehen.“ Als ob je in einem Religionsunterricht gelehrt worden wäre, eine „Religion zu verstehen“, unabhängig ob es dabei um die eigene oder eine andere geht. Das „Prinzip des Gottesglaubens“ kann vielleicht im traditionellen Sinn irgendwie eingeimpft werden, doch wenn es um Verständnis geht, bleibt der Glaube notwendiger Weise jenseits der Erkenntnis.
Ich habe selbst 13 Jahre katholischen Religionsunterricht besucht, zeitweise besuchen müssen. Ich habe sogar eine mündliche Abitursprüfung in Religion gemacht und entsprechend ist mir das, was Tita von Hardenberg „kulturelle Wurzeln“ nennt, durchaus geläufig (in diesem Blog ja hinreichend dokumentiert). Ich möchte sagen, „trotzdem“ habe ich es geschafft, eine distanzierte und befreite Haltung gegenüber „meinem Gott“ und „meinem Glauben“ einzunehmen, so dass ich diesen Gott nun als einen Gott unter vielen erkennen kann und weiß, wie die Lehren zu deuten sind. Ich habe mein Leben quasi selbst säkularisiert und damit im Schnelldurchlauf meiner Adoleszenz, die weit mehr als 2000-jährige
(!) Geschichte des Abendlandes durchlaufen. Erst durch das Überwinden von Glaubensvorstellungen, durch die Konfrontation von nicht religiösen, philosophischen Gedanken und (Auf)Klärungen, lernen wir unsere kulturellen Wurzeln kennen. Unsere Wurzeln ziehen ihre Kraft mindestens ebenso stark aus den Gedanken von Platon, Sokrates, Imanuel Kant, Friedrich Nietzsche, Max Weber und Hannah Arendt (um nur ein paar wenige zu nennen), wie aus den Lehren von Jesus von Nazaret oder eines alttestamentarischen Gottes, welchen Namen wir ihm auch geben oder lassen wollen. Und um im floralen Bild zu bleiben, unser Leben blüht dann auf, wenn wir den staatlich garantierten Freiraum zur Persönlichkeitsentwicklung nutzen, uns bilden, denken, erkennen und an der Gesellschaft partizipieren.
Wie im Leben nach der Schule ist Religion auch während der Schulzeit etwas, das im Privaten seine Berechtigung haben mag, das manchen vielleicht Trost und Hoffnung bringt oder Lebenshilfe ist. Im Öffentlichen, also in der freien Sphäre, die uns allen der Staat garantiert, gelten ethische Grundwerte. Diese Werte entsprechen manchmal den sozial geprägten Lehren der verschiedenen Glaubensrichtungen, doch deshalb sind sie natürlich trotzdem nicht durch die Religion fundiert oder gar garantiert. Die großen monotheistischen Religionen (die sich bei Pro Reli zusammenfinden) sind ja allesamt jünger als der Prozess der Ideenfindung zu demokratischen Grundordnungen. Der Ideentransfer, oder Nährstofftransfer (dazu sind Wurzeln ja da) fand eher andersherum statt. Aus den säkularen Sozialsystemen entstanden die Monotheismen.

Von den sieben Argumenten, die von Pro Reli angeführt werden, sind sechts wirklich sachlich falsch. Nur das letzte Argument, unter der Schlagzeile „Fundmantalismus bekämpfen“, kann man gelten lassen, denn in diesem Punkt wollen selbst die konfessionellen Eiferer lieber vom Staat geschützt werden. Die These ist hier, dass es besser ist, den Glaubensunterricht von den Hinterhöfen in die Schulen zu holen, um ihn damit unter staatliche Kontrolle zu stellen. Durch ein ordentliches Fach „Islamunterricht“ müsste zum Beispiel ein staatlich abgesegnetes Curriculum (=Lehrplan) erarbeitet werden. Dadurch könnte verhindert werden, das Muslime von fanatischen Glaubensgruppen beeinflusst werden könnten. Das erscheint mir nachvollziehbar, doch sagt Pro Reli damit doch eindeutig, dass es ihnen lieber ist, wenn der Staat darauf aufpasst, was die Religionen den Kindern lehren. Ist doch merkwürdig, dass Pro Reli genau gegen diese Kontroll- und Lehrfuntion des Staates im Rahmen des Ethikunterrichts ins Felde zieht.

Wirklich absurd ist die Behauptung, der wahlpflichtmäßige Religionsunterricht fördere die Toleranz in der Gesellschaft. Intoleranz entsteht immer aus einem Glauben heraus (z.B. dem Glauben, den richtigen Glauben zu haben, reinerer oder besserer Herkunft zu sein als andere, mehr Rechte zu haben oder für die ethisch höherwertigen Ziele zu kämpfen als andere) und nie führt Nichtglauben zu Intoleranz. Wie sollte denn die Skepsis einen über andere erheben, wenn man weiß, dass man nichts weiß?
Menschen, die fest in ihrem Glauben stehen, glauben zu wissen, was richtig und was falsch ist. Sie neigen dazu im Dualismus von gut und böse zu denken (als Beispiel: George W. Bush). Kaum vorstellbar, dass Gläubige, die sich selbst natürlich notwendiger Weise auf der guten Seite sehen (außer vielleicht ein paar versprengten Satanisten), auch alle anderen (Nichtgläubigen) als Anteilseigner des Guten anzusehen im Stande sind.Wer sowas glaubt, hat bestimmt auch die erstaunliche Fähigkeit an (s)einen Gott zu glauben.

Glauben Sie es lieber nicht und stimmen Sie mit Nein!

Hier noch die offizielle Abstimmungsbroschüre des Wahlleiters: PDF herunterladen

 

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10. Januar 2008 12:34:00

… 100 Jahre Tod: Max und Moritz sind dennoch quicklebendig

Max und Moritz, Peter Pankow (rechts) und Torsten Holzapfel (links)

Max und Moritz, Peter Pankow (rechts) und Torsten Holzapfel (links). Foto: Günther G. Feld.

Pünktlich zum hundertsten Todestag von Wilhelm Busch startete gestern die Premiere zu „Max und Moritz“ im Theaterprojektraum F40. F40 ist die gemeinsame Spielstätte von Theater Thikwa und dem Englisch Theater Berlin. Erstmals wurde nun unter der Leitung von Günther Grosser eine gemeinsame Inszenierung auf die Bühne gehievt.

Die Schauspieler im mehr oder weniger festen Ensemble des Theater Thikwa sind mehrheitlich mehr oder weniger behindert. (Oder muss man heutzutage „körperlich-geistig benachteiligt“ sagen?) So auch die beiden Akteure in den Rollen von Max und Moritz Peter Pankow und Torsten Holzapfel, die allein durch ihre äußerlichen Merkmale schon als Idealbesetzung erscheinen. Der eine klein, dick, knuddelig, der andere lang, dünn und eckig. Dergestalt treiben sie ihr Unwesen und werden manchmal von ihrem Wesen getrieben, denn bis ins letzte Detail ist die Theaterarbeit mit den beiden sicher nicht planbar. Das macht aber gerade den Reiz und die Komik …
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