Lesezeichen setzen: RSS Feed abonnieren  Zu del.icio.us hinzufügen Zu Technorati Favoriten hinzufügen Diese Seite zu Mister Wong hinzufügen

6. Januar 2008 12:42:49

… glatt und kalt: Zeit für den Themenabend Winterreise

Blonder Engel

Blonder Schutzengel in Ketten wacht mit mäßigem Erfolg über den überfrierenden Gehweg in der Oranienburger Straße.

Es muss vor vier oder fünf Jahren gewesen sein. Die früh einsetzende Dunkelheit arrangierte sich mit einem leichten Temperaturanstieg und auf den noch gefrohrenen Boden fiel allmählich eher Regen als Schnee. Wir fuhren ins Eiszeitkino und schauten uns den Inuitfilm „Atanarjuat – die Legende vom schnellen Läufer“ an. Das großartige Epos komplett in Inuitsprache brachte uns weit weg in eine alte und vor allem eiskalte Welt. Als wir nach dem Film wie benommen auf die Straße traten konnten wir uns kaum auf den Füßen halten. Die gesamten Straßen und Gehwege waren mit einem millimeterdicken Eispanzer überzogen. Wir schlidderten zum Wagen, der zum Glück nur …

… wenige Meter vom Kino entfernt geparkt war und dachten es wäre vielleicht besser im Schritttempo auf vier Rädern nach Hause zu tuckern, als auf zwei Beinen alle paar Meter hinzufallen. Also warfen wir den Motor an und versuchten aus der Parklücke zu kommen, doch es war schlichtweg unmöglich. Die leichte Wölbung der gepflasterten Zeughofstraße vom Randstein zur Straßenmitte wurde zum unüberwindlichen Hindernis. Wir rutschten daran ab, wie an einem steilen Berg. Die Reifen drehten komplett hohl. Also doch zu Fuß. Die Hochbahn in der Skalitzerstraße fuhr extrem langsam, weil auch die Gleise und die Schleifkontakte für die Stromübertragung vereist waren. Es knallte, blitzte und funkte als löste die Bahn ihr eigenes Gewitter aus. Die Häuserzeilen links und rechts der Bahn flackerten im kalten blauen Licht der Elektrofunken auf, als würden 100 Schweißer gleichzeitig ihre Brenner anwerfen. Wir schlidderten teilweise wirklich auf allen vieren unter die Hochbahn, wo es weniger glatt war. Die Funken der über uns donnernden U-Bahn regneten neben uns herunter. Die überfrohrenen Grünflächen waren weniger glatt und außerdem fiel man weicher und so wählten wir den Heimweg durch den Görlitzer Park rüber in die Reichenberger Straße. Wir trafen auf dem gesamten Weg nicht einen anderen Menschen und das Knallen der U-Bahn begleitete uns fast bis nach Hause. Es war ein romantischer, spontan entstandener Themenabend „Eis“, der gar nicht hätte besser als Event hätte designt werden können.

Gestern standen die Vorzeichen nun recht günstig, für ein ähnliches Themenerlebnis, denn als wir aus der aktuellen NGBK-Ausstellung „Social Cooking Romania“ kamen, waren die Gehwege auch schon schlidderig angefrohren. Wir beschlossen noch ganz unbestimmt einen Film in der Videothek auszuleihen und dort stand im Neuheitenregal der Film „Winterreise“ von Hans Steinbichler und mit Josef Bierbichler. Super, den hatte ich im Kino verpasst. Also DVD mitnehmen und ab nach Hause. Als wir die U-Bahn querten flogen schon die ersten Funken vom Gleis, doch ein verschärftes Eischaos sollte an diesem Tag ausbleiben und der aus geliehene Film spielt zum Teil im heißen Afrika. Das Ganze wies also weniger romantische, winterliche und poetische Geschlossenheit auf, als der Abend vor einigen Jahren.

Doch was für ein Film! Sepp Bierbichler spielt den manisch-depressiven Franz Brenninger, der vor einem finalen Scherbenhaufen seiner geschäftlichen Laufbahn steht. Als Rettung nimmt er ein unseriöses Geldwäscheangebot aus Afrika an (kennt man von Spam-Mails) und reitet sich und seine ganze Familie noch tiefer rein. Schließlich bricht er auf nach Mombasa, um sich sein Geld wiederzuholen. Es wird zu seiner letzten Reise.
Der Hauptdarsteller Bierbichler zieht einen wirklich durch alle Höhen und Tiefen dieses Charakters, den man wegen seiner Unausstehlichkeit hassen und wegen seiner Direktheit lieben muss. Und dann plötzlich nach all dem Geschrei wegen der „Scheiße mit den Arschlöchern“ in seiner Umgebung macht er den Mund auf und singt Schuberts Lieder aus der Winterreise, jenem Liederzyklus, der wohl die poetischste Vertonung aller Phasen einer Depression darstellt, die je gemacht wurde. Die Darbietung dieser sehr eigenwilligen bierbichlerischen Interpretation ist unglaublich innig und emotional aufwühlend. Dies wird verstärkt durch die wunderschönen malerischen und grafischen Aufnahmen die in manischen Phasen ganz nah und hektisch bei Brenninger sind und in der Depression machmal minutenlang elegisch durch trübe, verschneite Landschaften schwenken. Die Gelegenheitsübersetzerin Layla (Sibel Kekilli bekannt aus „Gegen die Wand“) wird dabei zu seinem Schutzengel auf der Reise in den Tod.
Auf der DVD ist zusätzlich ein interessantes Making-Of, in dem der Regisseur Hans Steinbichler sehr genau seinen Ansatz erläutert. Alles sehr sehenswert.

 

Autor:

 

Kommentarfunktion ist deaktiviert

Beitragsarchiv

Bizim Kiez – Website