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22. Februar 2011 17:59:12

…nie verzweifelt! Ein verspäteter Berlinaleblick auf den türkischen Wettbewerbsbeitrag Bizim Büyük Caresizligimiz

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„Büyük“ heißt „groß“ auf Türkisch, im Gegensatz zu „kücük“, was „klein“ heißt. Ich stelle das voran, weil ich erstens beide Worte schön finde und zweitens nicht genau weiß, warum Seyfi Teomans Berlinale-Beitrag Our Grand Despair „Die große Verzweiflung“ heißt. Eigentlich verzweifelt niemand in diesem Film. Jedenfalls nicht mehr, als jede von uns am Leben verzweifeln kann. Andererseits: Hier stellt ein Eindringling eine eingespielte Situation drastisch auf den Kopf. In die zweisamen Idylle, die sich die nicht erwachsen werden wollenden Singles Ender (Ilker Aksum) und Cetin (Fatih Al) geschaffen haben, platzt die zwanzigjährige Nihal (Günes Sayin). Fikret (Baki Davrak), einst der Dritte im Männerbunde, jetzt in Berlin lebend, vertraut nach dem tragischen Unfalltod der Eltern den beiden (Ex-)Kumpels seine „kleine“ Schwester an. Cetin weiß, wie man sich fühlt, wenn man plötzlich Waise wird: er war acht Jahre, als seine Eltern ebenfalls bei einem Unfall starben. Viel weiter geht sein Einfühlungsvermögen jedoch nicht. Denn die Idee, nach dem Studium zusammenzuziehen und die Kinderfreundschaft weiter zu leben, bedeutet Cetin und Ender viel: hauptsächlich gemeinsames Einkaufen, Kochen und „Chillen“. Sie könnten ein ewig verheiratetes Heteropaar sein. Oder auch schwul. Mit eher gedämpfter Erotik im Alltag, wenngleich ihre Beziehung durchaus eine erotische Komponente hat. Sie haben sich eingerichtet, im tristen Ankara, das keiner von ihnen mehr verlassen möchte: Ankara im Winter, Ankara im Sommer. Die Uhr tickt, aber weder ändert sich der Musikgeschmack der beiden, noch ihre kulinarischen Präferenzen. Das Leben findet offenbar irgendwo anders statt, ohne dass sie das stören würde.

Und dann steht sie vor der Tür: Nihal. Traumatisiert nach dem abrupten Verlust der Kindheit, abgeschoben zu zwei schrulligen Enddreißigern, deren Erfahrungen mit Frauen sich auf kurze Intermezzi während des Studiums beschränken. Fast unnötig zu sagen, dass sie sich in der Schule geschworen haben, sich in die gleiche Frau zu verlieben. Bisher hat das nicht geklappt.

Nihal, die zarte, traurige und doch im richtigen Leben verankerte Zwanzigjährige, wirbelt den emotionalen Dämmstoff nun heftig auf. Nicht nur, dass sie für beide Männer eine große Versuchung darstellt: Sie selbst fühlt sich von ihren beiden neuen „Vätern“ angezogen. Sie sieht in ihnen nicht nur Ersatzbrüder sondern – wie beide überrascht feststellen – auch den Mann.

Ein spannender Film mit einer scheinbar banalen Geschichte. Denn so sensible und zugleich wahrhaftige Männerfiguren sieht man im Kino selten. Nicht, dass Ender und Cetin keine Wünsche hätten. Aber sie empfinden diese in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit, und vor der Realisierung bewahrt sie die Gewissheit, dass es gut ist, wie es ist. Den cineastischen Genuss stört auch nicht die auf halber Strecke dämmernde Erkenntnis, dass dieser Film keinen abrupten Bruch haben wird: Keiner wird den Freund für die Frau aufgeben, und diese wird nicht versuchen, einen von beiden – oder gar beide – zu verführen. Man schaut ihn gern, in all seiner Trivialität. Man fühlt mit der leisen Wehmut der Protagonisten, ihrer Sehnsucht nach den mit der Jugend vergangenen Träumen, dem Sichabfinden mit genau diesem Leben. Irgendwann im Film gibt es eine Studentendemo für bessere Bildung. Ender kommt vorbei und klatscht ein bisschen mit. Aber die Rebellion oder die laute Klage sind seine Sache nicht. Er braucht Cetin, dessen zärtlicher Optimismus ihn immer wieder vor der Verzweiflung bewahrt. Er braucht den Lieblingssessel und viele Bücher im Regal, Ankara im Winter, Ankara im Sommer. Auch Cetin braucht nicht mehr als das. Ein leiser Film, sagt man wohl. Der berührt, obwohl eigentlich nichts passiert.

 

 

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