Lesezeichen setzen: RSS Feed abonnieren  Zu del.icio.us hinzufügen Zu Technorati Favoriten hinzufügen Diese Seite zu Mister Wong hinzufügen

30. Dezember 2010 16:53:05

… Von oben: „Die Möwe“ im Deutschen Theater

1206_die_moewe4_matthias_horn
Die Möwe
von Anton Tschechow; Regie: Jürgen Gosch (Premiere 20.12.2008, Deutsches Theater Berlin); Foto: Matthias Horn; Auf dem Bild: Meike Droste (Mascha), Kathleen Morgeneyer (Nina Michailowna Saretschaja ), Christoph Franken (Semjon Semjonowitsch Medwedenko)

Immer wieder Tschechow. Die Berliner lieben ihn. Nach „Onkel Wanja“ (2009 mit kräftigem Spiel in den Sophiensaelen), dem umjubelten „Onkel Wanja“ im Deutschen Theater, dem sehr konzentriert aufgeführten „Krankenzimmer Nr. 6“ (erneut DT), nun „Die Möwe“ – wiederum in der Schumannstraße. Wenn ein Stück wie dieses – Regie Jürgen Gosch, der leider im Juni 2009 verstarb – schon ein längeres Weilchen vor vollem Haus gespielt wird, dann ist es gut geraten. Dennoch ist das nur bedingt tröstlich, wenn, wie jetzt, nur noch Plätze im zweiten Rang zu bekommen waren. Man schaut von ganz oben den Schauspielern auf die Köpfe, sieht die Mimik kaum und konzentriert sich – aus Not wird Tugend – auf die Stimmen, den Klang, die Sprache, die Bewegung.

Da fielen mir zuerst der Literat Trigorin (Alexander Khuon) und der Arzt Dorn (Peter Pagel) auf. Beide waren wohl zufrieden mit ihrem Dasein, ob quirlig, aufbrechend, von sich selbst angetan der eine oder praktisch, ländlich, unspektakulär handelnd der andere. So spielten sie und so hörte es sich bei ihnen auch an. Die aufgeführte Tristesse des Lebens auf einem russischen Landgut und die Unfähigkeit, sein Glück zu finden, hatte bei beiden nur unmerkliche Spuren hinterlassen. Anders hingegen bei der Schauspielerin Arkadina (Corinna Harfouch), die eine permanente Unruhe ausstrahlte, welche jeden Moment ins Schrille oder Explosive umzukippen drohte. Das war besonders dann der Fall, als ihr Sohn Treplew (Jirka Zett), angehender Schriftsteller – von seiner Mutter als untalentiert empfunden und bezeichnet – zusammen mit seiner geliebten Nina M. Saretschnaja (Kathleen Morgeneyer) – werdende Schauspielerin – auf der Bühne etwas vorzeigen wollte.

Anton Tschechow erzählt in seiner Komödie von der Suche des Menschen nach Liebe, Glück, Zufriedenheit und beruflicher Erfüllung. Er bzw. der Regisseur führt uns dieses Bemühen aber nur zaghaft vor, belässt es zumeist bei der Darstellung der Situation und zeigt uns das Leiden seiner Protagonisten: Treplew liebt Nina; diese wiederum fühlt sich zu Trigorin hingezogen, der aber von Arkadina dringend gebraucht wird. Treplew wiederum wird innigheimlich von Mascha (Meike Droste) geliebt, der Tochter des Gutsverwalters. Und mitten unter all diesen Unglücklichen quengelt oder schwadroniert auch noch Sorin (Christian Grashof – großartig), Bruder der Arkadina, über sein schmalspuriges Leben.

Das Bühnenbild ist, ähnlich wie bei „Krankenzimmer Nr. 6“, schlicht und zuschauerfreundlich. Die Schauspieler sitzen oder stehen vor einer anthrazitfarbenen Wand mit angebauter Sitzbank gleicher Farbe und absolvieren, von dort abgehend, ihre Vorführung. So kommt auch das Spiel sehr direkt herüber. Kathleen Morgeneyer beeindruckt mit ihrer nervös-zerissenen Nina, die für die Kunst alle Wege gehen will und schließlich auch die Kraft aufbringt, aus der Langeweile auszubrechen. Corinna Harfouch spielt einen Typ, den man zu kennen glaubt: Auf sich selbst fixiert, mal brachial handelnd oder leidend.

Anton Tschechow, am 29. Januar 1860 geboren (150. Geburtstag), war zweifellos einer der ganz großen Erzähler und Dramatiker. Dennoch wundere ich mich über die Bezeichnung Komödie für das Stück „Die Möwe“, denn immerhin endet sie für die Figur des Treplew in der Katastrophe. Oder konnten die Leute zu jener Zeit einfach mehr vertragen?
Ich erlaube mir, dem verblichenen, russischen Dichter – wiederum mit heutigen Augen – eine weitere Frage nachzusenden: Wie konnte man sich auf einem naturbelassenen Wochenendgrundstück in frischer Luft, weitab vom Mainstream, im Gespräch mit ehrgeizigen, verdrehten oder unglücklichen, also interessanten, Menschen nur so langweilen, obwohl es ja damals noch kein Fernsehen gab?

 

Autor:

 

Beitragsarchiv

Bizim Kiez – Website