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Archiv der Kategorie ‘Mitte-Tiergarten-Wedding‘

3. November 2013 23:42:02

… dreimal im Leben. Arturo Pérez-Reverte präsentiert seinen neuen Roman

Zur ersten Begegnung kommt es 1928 auf einem Kreuzfahrtschiff, der Cap Polonio, auf dem der umtriebige Argentinier Max Costa als Eintänzer arbeitet. Eigentlich hat er es auf den Schmuck der reichen Damen an Bord abgesehen. Doch bei der jungen und schönen Musikergattin Mercedes (Mecha) Inzunza ist es mehr als das Perlencollier, das ihn reizt. Sie ist unwiderstehlich, und er lässt sich bei der Ankunft in Buenos Aires nur allzu gern darauf ein, ihr und ihrem Mann, dem spanischen Komponisten Armando de Troeye, zu zeigen, wo der echte Tango, El tango de la Guardia Vieja (wie das Buch im spanischen Original heißt)  gespielt und getanzt wird. Für De Troeye geht es um eine Wette mit Maurice Ravel, der erklärte, er würde einen Bolero schreiben, wenn es dem Kollegen aus dem klassischen Fach gelänge, einen Tango zu komponieren. Während der Musiker sich der Musik hingibt, sinkt Mecha in die Arme des armen Tänzers Max, der sich am Ende – Liebe hin, Leidenschaft her – trotzdem mit den Juwelen aus dem Staub macht.
Ende der 1930er Jahre begegnen Max und Mecha sich wieder. Armando sitzt in Spanien im Gefängnis, ein Opfer der Faschisten, es ist die Zeit des Bürgerkriegs. Mecha wartet in Nizza auf ihn. Max, der sich mittlerweile hauptsächlich als Kleinganove in Italien verdingt, wird vom Geheimdienst Mussolinis angeheuert, ein wichtiges Dokument aus einem Safe an der Côte d’Azur zu stehlen. Viel Geld wird ihm geboten, und er kann, wie meist, nicht nein sagen. Auch der faszinierenden Mecha kann er ein weiteres Mal nicht widerstehen. Vielleicht ist sie die Liebe seines Lebens? Doch wieder trennen sich ihre Wege. Mecha wird, nach dem Tod Armandos, den chilenischen Diplomaten Ernesto Keller heiraten. Ihr Sohn, Jorge Keller, macht sich schon bald als Schachgenie einen Namen. Die dritte Begegnung ist Sorrento in Italien. Es sind die 1960er Jahre, und Jorge bestreitet die Vorwettkämpfe der Schachweltmeisterschaft gegen den russischen Großmeister Mijail Sokolov. Gekämpft wird jedoch nicht nur mit sauberen Mitteln. Was Max Costa zunächst ziemlich egal ist: Er hat sich zur Ruhe gesetzt und verdient sich seine Rente als Chauffeur des renommierten Schweizer Psychiaters Dr. Hugentobler. Doch Mecha etwas abschlagen? Max kann es nicht. Zumal ihr Leben durch mehr als unerfüllte Leidenschaft ganz eng miteinander verwoben ist.

Arturo Pérez-Reverte, ehemaliger Kriegsberichterstatter und einer der bekanntesten spanischen Schriftsteller, präsentiert mit diesem großen Roman ein Alterswerk im besten Sinn. Er habe, so sagt er in einem Interview, die Idee zu dieser bewegten und bewegenden Geschichte schon seit über zwanzig Jahren im Kopf. Doch erst mit sechzig konnte er sie wirklich schreiben. Wie wird man alt und dennoch nicht traurig? Wie lebt man konsequent genau so, wie man es möchte? Wir gelingt es, die Leidenschaft eines wahren Tangos und einer echten Liebe, nie zu vergessen, selbst wenn Jahrzehnte die Begegnungen trennen? Ein schönes, romantisches, humorvolles, figuren- und action-reiches Buch, das sich, und auch das muss gesagt werden, in der gelungenen deutschen Übersetzung von Petra Zickmann (mit einem bezaubernden Cover unter dem Titel Dreimal im Leben bei Suhrkamp erschienen) fast noch schöner liest, als im Original.

Am Montag, den 4. November präsentiert Arturo Pérez-Reverte seinen Roman im Babylon. Die deutschen Passagen liest Boris Aljinovic. Mit dem Autor spricht Frank Wegner.

 

 

23. September 2013 23:11:51

…Gemeinschaft: Ummah, ein Film, der Spaß macht und für Toleranz wirbt

Der Anfang ist blutig und brutal. Aber es folgt kein schauerliches Gemetzel. Ummah – Unter Freunden ist eine liebenswerte, dramatische, schöne, sympathische Geschichte über Toleranz und Freundschaft.

Daniel Klemm (Frederick Lau) arbeitet als V-Mann für den Verfassungsschutz, als ihn ein Job in Sachsen aus der Bahn wirft. Statt weiter Neonazis zu jagen soll er sich ein paar Monate lang in einer Schutzwohnung in Neukölln regenerieren. Eine unrenovierte, vermüllte Bruchbude, aus der er auch bis zum Ende des Films nichts macht. Dafür erkundet er den Kiez und wird liebevoll in eine migrantische Clique um den umtriebigen Abbas (Kida Khodr Ramadan) und den aus einer eigenen eher düsteren Vergangenheit in die Legalität stolpernden Jamal (Burat Yigit) integriert. Sie nehmen ihn zu einer türkischen Hochzeit im Wedding mit, zum Islamunterricht, in die Teestube und zum Abholen der Kinder in den Kindergarten. Er wird Zeuge der handfesten Diskriminierung von Männern mit dunklen Haaren und dunklen Augen durch die Polizei. Wird irgendwo irgendwem etwas geklaut, ist jeder „Türke oder Araber“ verdächtig. Und die weiße Mehrheitsgesellschaft spart auch nicht mit subtilen Attacken: Genau gegenüber vom Kindergarten klebt ein riesiges Werbeplakat mit einer fast nackten Frau.

Cüneyt Kaya zeichnet in seinem Spielfilmdebüt mit viel Witz und Gefühl ein Portrait einer (oder zweier) Gesellschaft(en), die sich unausweichlich nah und oft doch so fern sind. Die Vorurteile der biodeutschen Beamten spiegeln sich im alten Mann der migrantischen Community, der die Jungen ebenso heftig vor „dem Deutschen“ warnt. Doch die next generation auf beiden Seiten lässt sich nicht davon abhalten, den Versuch friedlich-freundschaftlicher Koexistenz zu wagen. Das Happy End bleibt aus, und doch macht der Film Hoffnung, dass es ein solches geben kann. Wenn man denn nur will …

 

 

18. September 2013 21:58:50

… BubeDameKönigAss: 4 Männer Egos in der Neuen Nationalgalerie

Direktor Udo Kittelmann der Neue Nationalgalerie trieb die vier im Projekt „Paintig Forever“ kooperierenden Institutionen zum Thema Malerei. Er wollte unbedingt in seinem Museum zeigen, welche in Berlin entstehende Malerei für aktuelle Großsammlungen angekauft wird. Die Marktdynamik fasziniert ihn und er willigt ein – bewusst oder unbewusst – die Definitionsmacht über die Qualität von Kunst, damit endgültig den Sammlern zu übertragen. Brauchen wir das Museum, um den Menschen zu zeigen, was in großen Sammlungen aufgehäuft wird? Kittelmann glaubt schon. Er meint die Kunstkritik kann nicht übersehen, dass es Künstler gibt, die alleine mehr Geld einspielen, als Staatsmuseen an Jahresetat zur Verfügung haben. Darum kommt man nun nicht daran vorbei im Mies van der Rohe Bau darüber zu staunen, welche Kunstwaren marktkonforme deutsche Maler erzeugen. Unter dem Titel „BubeDameKönigAss“ werden die Künstler-Egos wie Trümpfe ausgespielt: Martin Eder (*1968) Michael Kunze (*1961) Anselm Reyle (*1970) und Thomas Scheibitz (*1968). Diese Ausstellung kann man am besten mit Reizwörtern beschreiben: Es ist geil, schräg, krass, mega-groß, fett und knallig. GELD als Energiequelle für den HYPE, als konstituierendes Merkmal für Kunst. Und es ist tatsächlich mitreißend, wenn man den Ekel überwinden kann, den der Protz erzeugt. Wie wenn man beim Kartenzocken einen Lauf hat.

anselm-reyle-nationalgalerie-2013
Anselm Reyle weiß genau, wie man den Markt bedient und er ist schlau genug haufenweise, meist vermutlich ironisch gemeinte aber doch irgendwie sehr gewissenhaft abgehakte, kunstgeschichtliche Anleihen einzubauen, so dass Kunsthistoriker gleich zu fabulieren anfangen – Ives Klein, Jasper Johns, Jeff Koons, Robert Rauschenberg und natürlich die namensverwandte Bridget Riley – stimmt ja alles! Mit seinem vielköpfigen und arbeitsteiligen Team produziert er Werke in Dimensionen, die über alle Arbeiten der genannten herausragen. In dieser Ausstellung werden nur Bilder gezeigt, aber Reyle arbeitet auch gigantös skulptural und baut Hallen-füllende Environments. Je größer, je besser. Zwei der aktuell wichtigsten Praktiken der Kulturindustrie werden perfekt kombiniert: Remixing und Eventisierung. Ob das Bestand hat ist eigentlich total egal, denn es macht zumindest alle Beteiligten reich.

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Martin Eder – mal dandyhaft, mal verlebt – ist ebenso geschickt im kombinieren von Reizthemen: völlig überzogen zuckersüßer Kitsch im Clash mit unterkühltem Sex, der wie in Frischhaltefolie abgepackt präsentiert wird. Eigentlich ist es eher beschädigte Geschlechtlichkeit als Sex. Und es wirkt irgendwie krank und fremd – als würde man Asiaten zugucken, die mit der Lupe im Anschlag in den Puff zum Tabledance gehen. Aber diese Bilder kitzeln einen schon im Inneren und sie werfen Fragen auf, die man nicht so leicht beantworten kann. Ist ein putziges Kätzchen nicht einfach unglaublich anziehend schön anzusehen, und noch schöner anzufassen? Will man es nicht sofort auf den Arm nehmen und lieb haben? Genau wie die Mädchen, die man da aus diesen schlimmen Bildern holen will, um sie mit aufgewärmten Frotteehandtüchern zu empfangen? Ist Schönheit noch mehr als ein globalisiertes Kulturgut? Massenkompatibel und kapitalistisch geprägt? Und kann oder soll man sich dem erwehren? Will man das überhaupt? Ich finde dieses Werk spannend!
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Thomas Scheibitz ist der konventionellste, gerade noch abstrakt arbeitende Maler in diesem Quartett. Seine Bilder sehen aus, als gehörte er einer anderen – älteren – Generation an, die noch Interesse an in der Kunst selbst liegenden Themen hat. Aber sein Werk ist auch nur im Zusammenhang mit seinen Skulpturen zu verstehen. Die pure Präsentation seiner Malerei erscheint mir sinnlos. Das ist sehr schade, denn als Künstler, der die Spannung zwischen Bild und Skulptur zuspitzen kann, finde ich ihn hoch interessant.

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Das Werk von Michael Kunze ist das einzige in dieser Runde, zu dem ich keinen schnellen Zugang finde. Ich versteh diesen dunklen Wimmelkosmos (noch) nicht – aber er vermitteln schon ein starkes Kunstgefühl. An dem hier zu sehenden Bild „Vormittag“ arbeitet er seit den 1990er Jahren kontinuierlich. In solche Kunst muss man sich einarbeiten und nachlesen und die Zeit hab ich derzeit nicht. Jedenfalls macht des Motto „Painting forever“ hier wirklich Sinn.

 

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18. September 2013 19:27:21

… unbeabsichtigt gegeneinander: Painting forever – To Paint Is To Love Again – 4 Frauen in der Kunsthalle Deutsche Bank

Im vom Land Berlin finanzierten Projekte „Painting forever“ arbeiten die vier wichtigsten Berliner Kunstinstitutionen zusammen. Das Motto zieht die Aktivitäten von der Berlinischen Galerie, der KunstHalle Deutsche Bank, des KW – Kunstwerke und der Neuen Nationalgalerie während der Berlin Art Week 2013 zusammen. Zwei der Ausstellungen sind zu Gegenpositionen geworden, ohne dass es recht geplant gewesen wäre.

In der Nationalgalerie gibt Direktor Udo Kittelmann Raum für vier äußerst marktkonforme deutsche Künstler. Unter dem genauso spielerischen, wie konsequent sinnlosen Ausstellungstitel „BubeDameKönigAss“ poltern vier konsequent konzeptionierte Monster-Egos einer Generation auf Großformaten: Martin Eder (*1968) Michael Kunze (*1961) Anselm Reyle (*1970) und Thomas Scheibitz (*1968). Natürlich war keiner der Typen bei der Pressekonferenz. (Mehr dazu in einem weiteren Artikel …)

In der KunstHalle Deutsche Bank lässt Kuratorin Eva Scharrer unter dem Titel „To Paint Is To Love Again“ vier Frauen unterschiedlicher Generationen säuseln: Jeanne Mammen, Antje Majewski, Katrin Plavčak und Giovanna Sarti. Sie malen Unsichtbares, Geheimnisvolles, Verborgenes und Ephemeres und standen alle (sofern noch lebend) den Journalisten für Fragen bereit. Man kann diese beiden Ausstellungskonzeptionen nur als Gegenpositionen sehen, die sich leider zuvorderst geschlechtlich verorten lassen, ohne dass sie sich so eigentlich positionieren wollten. Das ist besonders in Bezug auf die weibliche Zusammenstellung schade und ein Problem, denn es verstellt natürlich den Blick für die Kunst der bzw. des einzelnen.

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Jeanne Mammen, Verheißung eines Winters (1975)

Jeanne Mammen (1890–1976) – obwohl in der letzten Ecke der Schau – bildet mit bisher weitgehend unbekannten Arbeiten aus den 1950er – 7oer Jahren den Ausgangspunkt in der KunstHalle. Ihr Spätwerk steht stark in der Tradition von Klee einschließlich der verheißungsvollen Titel: „lyrische Abstraktion“ Symbolismus aus pasteuser Ölfarbe mit eingearbeiteten Glitzereffekten (Stanniolpappierchen von Bonbonverpackungen). Es ist ein trauriger Abgesang gegenüber den kraftvollen, vitalen und treffenden Zeichnungen, die sie in ihrer expressiven Phase z.B. im Simplizissimus veröffentlichen konnte.

Die anderen drei in Berlin lebenden Künstlerinnen haben sich nach eigenen Angaben bewusst auf den Dialog mit Mammens Werk eingelassen. Gefährlich bei einer so schwachen Vorlage.

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Antje Majewski (*1968) spüren Texten des Museumskurators Sebastian Cichocki nach. Sie illustriert Literatur – konkretisiert und kategorisiert Imaginäres. Sie zeigt in ihren Bildern Objekte, die aus bestehenden Wertesystemen. Unter anderem eine Bildreihe mit merkwürdig geformten Hundekörpern. Es sind Miniskulpturen gefertigt aus aus den Resten von Plastikzahnbürsten, die Frauen im KZ Ravensbrück als Geschenke für andere gefertigt haben. Ich bin mir unsicher, ob dabei nicht mehr Zauber verloren geht als geschaffen wird.

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Katrin Plavčaks (*1970) überträgt aktuelle Themen in den Bereich des leicht Surrealen. Sie arbeitet vielfältig mit Formaten und Materialien und deutlich aus weiblicher interpretativer Sicht.

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Giovanna Sarti (*1967) erarbeitet ihre Bilder kompositionslos. Im Ergebnis enttäuschend, geht es ihr ums Prozessuale, bei dem durch Handwerklichkeit und technisch bedingte Abfolgen Strukturen und Artefakte entstehen. Das hat man schon tausend Mal gesehen und hier wird leider nichts Interessantes hinzugefügt.

Leider gelang es mir nicht, dem Henry Miller entliehenen Motto der Ausstellung folgend, die Bilder mit dem Blick der Liebe zu betrachten. Ich empfehle die Ausstellung nur Menschen, die diese Fähigkeit besitzen.

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26. Mai 2013 15:19:18

…unbedingt: Martin Kippenberger

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Hamburger Bahnhof. Weltstadt-Niveau? My ass. Bürokraten-Arschlochismus, klassische Variante. Man hat zwei große doppeflüglige Türen zur Verfügung, nutzt jedoch nur einen einzigen schmalen Flügel – sowohl für Ein-als auch Ausgang !! Lange Schlangen hinaus ins Freie und die Treppen hinunter? Auch bei Regen? Scheißegal, Hauptsache die zahlen und verschwinden wieder. Wie man so was professionell und besucher-orientiert macht: kurzer Besuch in London genügt. Man kann aber auch selber drauf kommen…

Hamburger Bahnhof, bis 18. August – MARTIN KIPPENBERGER :  SEHR GUT | VERY GOOD

www.hamburgerbahnhof.de

 

 

14. April 2013 21:52:23

… Normal. Eine Buchvorstellung.

Manchmal lästern meine Schwestern und ich über diese 150%-Mütter (und Väter), die so unglaublich viel Bohei um ihre Sprößlinge machen. Vor zwanzig Jahren, als unsere Kinder klein waren, war vieles noch banaler – und unser Nachwuchs scheinbar auch gesünder. Allerdings sind das gesamtgesellschaftliche Wissen und der kollektive Druck auf die Eltern 2013 ungleich größer. Der Sohn, der „damals“ als „etwas aufgedrehter Wildfang“ nervte, wird heute heute vom Arzt oder alternativ von der Nachbarin mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) diagnostiziert. Die Tochter, die mal euphorisch, mal tiefbetrübt, also „ganz normal“ pubertierte, landet mittlerweile schnell in der Schublade „bipolar“. Gegen beides gibt es –Merck/Pfizer/BASF sei es „gedankt“ – mehr als genug Medikamente. Und gegen die anderen Syndrome unserer Zeit – Asperger, Fressattacken, disruptive Launenfehlregulation … – glücklicherweise auch.
Verstehen wir uns nicht falsch: Es gibt natürlich reale Geisteskrankheiten. Doch um diese geht es hier nicht. Es geht um die Modediagnosen, um die katastrophalen – ärztlich und selbst diagnostizierten – Symptome, die eigentlich gesunde Menschen leiden lassen und die Pharmaindustrie reich machen. Was sie für die Betroffenen und die Gesellschaft bedeuten hat nun einer aufgeschrieben, der weiß, wovon er spricht: ein Psychiater, der, wenn auch sehr spät in seiner Karriere, die Seiten gewechselt hat.

Allen Frances, selbst einer der Herausgeber des DSM-4, nutzt die anstehende Veröffentlichung des DSM-5 für eine Abrechnung mit dem Trend zur Erfindung immer neuer psychischer Leiden und zur kollektiven Krankschreibung ganzer sozialer Gruppen. Normal. Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen ist sein Appell an die Branche, auf den Boden der Tatsachen zurückzufinden und zu differenzieren. Denn Ärzte sollen heilen, und wer Gesunde als Kranke behandelt, übersieht am Ende jene, die wirklich krank sind und tatsächlich einer Behandlung bedürfen.

Was ist das DSM?

Das DSM (Diagnostische und statistische Handbuch psychischer Störungen) wird von der APA (Verband der amerikanischen Psychiater) herausgegeben. Es katalogisiert und kategorisiert psychische Erkrankungen, damit deren Behandlung entsprechend abgerechnet werden kann. Alle paar Jahre erscheint eine aktuelle Auflage des DSM. Ein Kreis eingeladener Experten diskutiert und entscheidet, welche Krankheiten neu aufgenommen oder gestrichen werden sollen. Die „Entdeckung“ eines neuen Syndroms ist für die beteiligten Psychiater natürlich ungemein prestigeträchtig, erläutert Frances. Und nebenbei ist sie lukrativ für die pharmazeutische Industrie.

Moderne Medikamente und modische Diagnosen

Ebenso wie alle paar Jahre neue Krankheiten entdeckt bzw. erfunden werden, haben auch Medikamente stets ihre Zeit. Die Psychiatrie als eher junge Disziplin setzte die Menschen in den 1950er Jahren gern unter Bromide, verabreichte in den 1960ern Lithium, sorgte für die massenhafte Verbreitung von Librium und Valium in den 1970ern und trug dazu bei, dass seit den 1980ern zumindest in den USA der Griff zu Prozac mindestens ebenso populär ist, wie das Lutschen eines Wick-Bonbons bei Kratzen im Hals. Problematisch ist dabei nicht nur die Entstehung von Medikamentenabhängigkeit, und bereits heute sind in den USA mehr Menschen von legalen Drogen abhängig als von illegalen. Problematisch sind ebenfalls die körperlichen Nebenwirkungen – Apathie, Lethargie, Übergewicht etc. – und die soziale Stigmatisierung. Und schließlich leiden nicht nur die Angehörigen eines mit einer psychischen Erkrankung diagnostizierten Patienten, sondern auch er/sie selbst. Selbst wenn die Zeitungen voll sind mit Berichten über „multiple Persönlichkeiten“ (die in den 1990er Jahren enorm „verbreitet“ waren, bis sie von der nächsten Diagnose abgelöst wurden): die Folgen der Krankheit oder Diagnose spürt jede/r, die/der sie als Etikett tragen muss. Doch nicht nur die Diagnosen steigen sprunghaft an. Auch die Zahl der Verschreibungen erreicht schwindelerregende Höhen: Jährlich werden allein in den USA 300 Millionen Rezepte über Psychopharmaka ausgestellt. Antipsychotika gehen im Wert von 18 Milliarden US Dollar über die Ladentheke, für Antidepressiva werden 12 Milliarden US Dollar jährlich bezahlt. Pharmakonzerne dürfen in den USA direkt bei den Patienten werben. Nicht wenige sterben an der versehentlichen Überdosierung der legalen Drogen, die sie sich selbst verschreiben. Und selbst wer zum Arzt geht, kann nicht sicher sein, einen kompetenten Diagnostiker an seiner Seite zu wissen: Neunzig Prozent der Angstlöser, achtzig Prozent der Antidepressiva, 65 Prozent der Aufputschmittel werden von Hausärzten verschrieben. Die wenigsten von ihnen sind psychiatrisch geschult. Von der Pharmaindustrie werden sie verständlicherweise gehätschelt.
Ein Umdenken tut Not. Es ist allerhöchste Zeit für mündige Patienten!

Allen Frances, Normal. Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen,
ist 2013 im Dumont Buchverlag, Köln erschienen.
Es hat 430 Seiten und kostet € 22,–.

Deutschlandpremiere Buchvorstellung am 16. April im Großen Saal der Berliner Zeitung, Karl, Liebknecht-Str. 29,.10178 Berlin
Einlass: 18 Uhr, Beginn: 19 Uhr
Eintritt: 7 €, ermäßigt für Abonnenten der Berliner Zeitung 5 €
Tel.: 030- 23 27 63 41. Mail: kundencenter@berliner-verlag.de

 

 

28. Februar 2013 17:36:00

… Kriegsgebiet: Mazeppa an der Komischen Oper

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Am 24. Februar wurde erstmals in Berlin die Tschaikowski Oper Mazeppa in russischer Sprache aufgeführt.
Das Kriegsepos ist musikalisch extrem dynamisch, facettenreich und umwerfend emotional. Henrik Nánási treib das Orchester schnell und präzise durch die Partitur, wobei auch räumliche Effekte (Bläser hinter dem 2. Rang, oder seitlich im Zuschauerraum) überzeugend genutzt werden. Glänzende Sänger und Sängerinnen mit riesigen Stimmen, die einen in Massenszenen geradezu in Sitze drücken ohne dabei das Gespür für sanfte Zwischentöne zu verlieren. Einzig die Hauptfigur Hauptmann Mazeppa verkörpert von Robert Hayward tritt etwas zu gleichbleibend polternd auf, wodurch sein langer Monolog nach der Pause leider merkwürdig hohl wirkt. Dagegen brilliert Asmik Grigorian als Maria vom höchsten Abstahlen bis zum innigsten Pianissimo. Die Hoffnungslosigkeit ihres Wiegenlieds am Ende des Stücks rührt fast zu Tränen.

Die Inszenierung, des erstmals eine Oper gestaltenden Ivo van Hove, ist eher sparsam, was aber im Kontrast zur beinahe übervollen Komposition den richtigen Raum erzeugt, um das eigentlich recht wirre Libetto vollkommen klar und logisch erscheinen zu lassen. Die Geschichte aus der Zarenzeit wird so, ohne sie krampfhaft modernisieren zu wollen, mühelos ins Allgemeingültige aktualisiert. Weil die Oper streckenweise doch eher wie eine russische Glorifizierung des Krieges klingt, setzt Tal Yarden mit seinen kaum auszuhaltenden Videos eine unmissverständliche Haltung entgegen. Reale Szenen, gefilmt mit den Handy-Cams aktiver Soldaten aus kämpfenden Truppen auf der ganzen Welt, werden zu einem auf die Musik geschnittenen Reigen des Grauens zusammengefügt: Folter, Hass, Erniedrigung, Gedankenlosigkeit, Übersprungshandlungen, Sadismus – es könnte nicht drastischer und brutaler sein. So sehr, dass man kaum hinsehen kann. Und doch notwendig, um nicht dem teils ins Kitschige abtriftenden Heldenaufspiel Tschaikowski zu verfallen.

Kritik auf Deutschlandradio Kultur, der ich mich (bis auf die Kritik an den Videos) anschließen kann: drk_20130224_2306_48922d1e.mp3

 

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28. Februar 2013 14:02:27

… unerhört: unmenschliche Musik im HKW

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Kann es überhaupt Musik geben, die nicht menschlich ist? Nach landläufiger Meinung ist Musik das kulturell geprägte, menschliche Spiel mit Tönen, Klängen, Rhythmen, Harmonien und Melodien. Wenn dagegen in der Natur Schwingungen auftreten, die zueinander Intervalle, Interfrenzen oder sonstige Strukturen aufweisen, halten wir es für interessante Geräusche. Wir weigern uns, den Gesang einer Amsel als Musik zu begreifen, denn logischer Weise müssten wir dann auch Amseln als Musiker ansehen. Anders, wenn ein Musiker, den Gesang einer Amsel sampelt, mit einigen physikalischen Parametern (rück)koppelt und im Kontext einer Ausstellung oder eines Konzerts abspielt. Hier lassen wir die Technik oder Technologie die menschliche Rolle des Musikers oder Komponisten spielen, da wir grundsätzlich alle technischen Phänomene der kulturellen Sphäre zurechnen. Kommt Geräusch und Technologie im Spiel zusammen, sind wir geneigt, es Musik zu nennen: Kunst-Musik oder zumindest Kultur-Musik.

Das Festival „Unmenschliche Musik – Kompositionen von Maschinen, Tieren und Zufällen“ balancierte genau auf den Grenzen zwischen Technologie, Natur und Kultur und stellt sich in der Form zwischen Ausstellung und Konzert dar. Es bieten sich Begriffspaare wie „performative Installation“ oder „interaktiver Klangraum“ an, um zu beschreiben, was da im Haus der Kulturen der Welt vor sich ging. Klänge auf der Suche nach den Anfängen und Enden der Musik.

Ich habe die Eröffnungsveranstaltung besucht und das Konzert von und mit Nobukazu Tekemura und dabei höchst unterschiedliche Eindrücke gewonnen. Zur Eröffnung ließ …
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30. Januar 2013 14:38:24

… retrograd: transmediale BWPWAP

transmediale2013_bwpwap_abstimmung
Mit gelben Karten gegen Pluto abstimmen.

Das Akronym BWPWAP (back when pluto was a planet) bezeichnet die Kurzform des diesjährigen, kuratorischen Konzeptes der transmediale 2013. Das Kürzel bildete sich in der Web-Sprache und bezieht sich auf den Statusverlust des Ex-Planeten Pluto, der 2006 demokratisch von offizieller Stelle, der Internationalen Astronomischen Union, zum Zwergplaneten herabgestuft wurde. Eine solche Rekategorisierung geschah übrigens schon öfters in der Geschichte der Astronomie und immer begründet durch neue Erkenntnisse, die alte Annahmen ablösten: Bis ins Jahr 1846 wurden insgesamt 13 Objekte als Planeten bezeichnet. Weil dann aber ab 1847 laufend neue Objekte zwischen Mars und Jupiter entdeckt wurden, führten Astronomen 1851 eine neue Kategorie ein: Die der Asteroiden (Planetoiden). Die Zahl der großen Planeten belief sich danach somit wieder auf acht. Plutos Schicksal ist also kein Einzelfall, was aber neu war 2006 ist, dass es das Internet gab. Global vernetzt und mit sentimentalem Hang erhob sich eine Welle des Mitgefühls für den kleinen verstoßenen Pluto, der in der solaren Großfamilie entrechtet wurde – wo der arme doch eh schon so weit weg von allen ist. Schnief.
Allerdings wurde ihm eine Ersatzfamilie angeboten, deren Chef er nun ist. Zusammengefasst wurden die „Plutoiden“ als Gruppe von trans-neptunischen Zwergplaneten, die jenseits von Neptun, dem
letzten Riesen im Sonnensystem, auf vereierten Bahnen umherschwirren.

Nun warum taugt diese Geschichte als Background für die transmediale 2013? Weil es im Kern um die Änderung der Perspektive geht, von der aus man etwas betrachtet und kategorisiert. Außerdem ist die Gesellschaft darauf angewiesen, sich den wertenden Blick von Experten ausrichten zu lassen, die den nicht-Experten sagen, wie ein Objekt oder ein Konzept einzuordnen und zu begreifen ist. In der Welt der Kunst leicht nachzuvollziehen durch die beliebte Frage „Ist das Kunst oder kann das weg?“, die nur von Sachverständigen, oder besser noch vom Erzeuger/Künstler selbst, zweifelsfrei geklärt werden kann. Und wo ein Experte eine Meinung vertritt, findet sich garantiert ein anderer Experte, der das genaue Gegenteil vertritt. In der Kunst wie in der Wissenschaft ist das der Normalfall, und in beiden Welten entscheidet mittelfristig die Zeit darüber, wer Recht hat. Landet ein umstrittenes Kunstwerk im Museum, weil es z.B. einen nachhaltigen Einfluss auf andere Künstler hatte, und bestätigt sich eine wissenschaftliche These durch die Forschungen nachfolgender Experimente? Beides kann der Fall sein und beides kann später widerlegt werden. In vielen Museen wird irgendwann aussortiert und weggeworfen, weil die zeitgenössische Kultur nichts mehr mit dem vormals gesammelten anfangen kann, und viele als gefestigt geltende wissenschaftliche Thesen wurden nach Jahrzehnten falsifiziert.

Dies alles wäre eine wunderbare kulturwissenschaftliche Basis, um darüber eine fantastische Ausstellung zu organisieren, doch leider erfüllt die transmediale 2013 BWPWAP diese Erwartung in keinster Weise. Es werden keine Perspektivwechsel erlebbar, keine Neuordnungen vorgenommen und keine inhaltlichen Diskussionen geführt, sondern es wird eine sentimentale und belanglose Sammlung von Retro-Kunst gezeigt. Kopierer, Kassettenrecorder und Fax-Geräte dürfen noch mal reüssieren, wobei man sagen muss, dass die Projekte in Form und Inhalt lange nicht an diejenigen herankommen, die zu Zeiten gemacht wurden, als die Apparate erfunden wurden und neue Möglichkeiten boten. Es scheint, dass der Blick nach vorn in einer zunehmend komplexen Welt immer weniger attraktiv ist und Künstler statt dessen lieber zurück zum analogen Low-Tech flüchten. Es ist eine mitfühlende Hinwendung zum alten Gerümpel, das nutzlos geworden scheint, aber im Blick der Künstler doch noch zu so vielem taugt. Natürlich ist auch das in gewisser Weise ein Perspektivwechsel, doch erfolgt dies spürbar im Gefühl, selbst in der rasenden technologischen Entwicklung der Welt zu unwichtigem Staub zermahlen zu werden. Genau wie das weltweit geäußerte Mitgefühl für den herabgestuften Pluto, entsteht beim Besuch der Ausstellung eher Mitleid für die Künstler, die sich quasi selber degradieren. Das Abwenden vom Neuen, könnte man allenfalls als anti-konsumistische Haltung verstehen, um aus dem Vorhandenen im Sinne der Ressourcenschonung zu schöpfen, doch auch davon ist nicht zu sehen.

In der Eröffnungsveranstaltung hingegen wurde von den Vortragenden ein ganz wunderbarer Moment der kulturellen Umdeutung inszeniert. Das Für und Wider der neuen oder alten Plutobetrachtung wurde exemplarisch durchexerziert und am Schluss durfte das Auditorium über den stellaren Status Plutos abstimmen (quasi in einer Art Reenactment zur IAU-Abstimmung von 2006): Die vorbereitete Resulotion zielte auf die Wiederherstellung des Planetenstauts für Pluto und der künstlerische Leiter der transmediale Kristoffer Gansing schien sich siegessicher. Doch es kam anders: Mit klarer Mehrheit wurde die Resolution abgelehnt. Das Publikum will nicht zurück, es will voran!

Bisher war ich manchmal der Meinung, der kuratorische Überbau zu transmedialischen Unternehmungen irrlichtere im Abwegigen, wobei sich die Kunst davon nicht all zu sehr verleiten ließ. Diesmal scheint es anders herum: Die Konzeption eröffnet einen höchst interessanten Raum, den die Kunst nicht zu bespielen vermag.

Website der transmediale 2013 BWPWAP

 

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8. Oktober 2012 11:06:49

… uked: The United Kingdom Ukulele Orchestra im Tipi


Für einen Ukulelen-Fan kann’s kaum besser kommen: Sieben Ukulelen und ein Bass vor singenden Briten. Da kommt im Tipi zusammen, was zusammen gehört. Ein fröhlicher Mix an Songs, von J.S. Bach über The Beatles und The Queen zu Heidi aus den Bergen, wird in ein sehr unterhaltsames Gesamtprogramm eingebaut, das mit dem Klischee des biederen Briten mit ausgeflipptem Hobby spielt. Der Abend hält genau, was er verspricht und passt hervorragend ins Tipi.

Mehr Infos zu The United Kingdom Ukulele Orchestra im Tipi.
Noch bis 14. Oktober.
Mehr zum Orchester

 

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