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Archiv der Kategorie ‘Geschichte‘

3. Oktober 2011 09:48:50

… ein Ereignis: „Das weiße Band“ *

Der Film „Das weiße Band“ lief im Januar 2010 in den Berliner Kinos und wurde seither auch im Fernsehen gezeigt.

Die Handlung spielt in einem norddeutschen Dorf in den Jahren unmittelbar vor dem 1. Weltkrieg. Hauptfiguren in dieser beinahe archaischen Umgebung sind ein überaus sitten- und glaubensstrenger, evangelischer Pastor mitsamt seiner großen Familie; ein Hausarzt, dem die Frau gestorben ist und der nun mit der Hebamme, die ihm das Haus besorgt, zusammenlebt; ein Baron, der als Gutsbesitzer Herr über alles und jeden ist und ein junger Lehrer, der versucht, in der dörflichen Mischung aus Dumpfheit, Elend, Neid, Intoleranz, Gnadenlosigkeit und sehr bescheidenen Freuden zu bestehen.

Der Film von Michael Haneke bietet eine Reihe hochkarätiger, schauspielerischer Leistungen, eine ruhige und sorgfältige Kamera, einen Erzähler, der den Zuschauern den Ablauf des Geschehens in einer einfachen, wie klaren Sprache ergänzt und verbindet dies alles zu einem künstlerischen Ereignis, wie man es nur selten auf der Leinwand erleben kann. Der Streifen – in schwarz/weiß gedreht – ist spannender als ein Kriminalfilm und in vielen Einstellungen präzise wie ein Kammerspiel. Insbesondere dann, wenn die Kamera dicht am Schauspieler agiert, gelingen beeindruckende Szenen, wie zwischen Dorfarzt und seiner Haushälterin (Hebamme) oder der Besuch des Lehrers bei den Eltern seiner Freundin.

Das Wunderbarste an diesem Film ist jedoch das Spiel der Kinder, die hier in großer Zahl das familiäre, schulische und dörfliche Leben dieser Zeit nachempfindbar machen. Manche Szenen, wie das Verhör eines Mädchens durch die Polizei oder wie der „Herr Vater“ von seinem jüngsten Sohn einen Vogel geschenkt bekommt, vergisst man nicht so schnell. Wer es auch schaffte, die Kinder (fünf bis sechzehn Jahre) zu diesem Spiel vor der Kamera zu inspirieren, dem ist etwas Großes gelungen.

Wir erleben mit diesem Film ein Kunstwerk herausragender Qualität! Wer möchte, heute abend 20:15 in der ARD erstmals oder nochmal.

* Dieser Text erschien, hier nur leicht verändert bzw. aktualisiert, bereits am 21.1.2010 im Hauptstadtblog.

 

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Alltägliches | Geschichte | Kino | Kunst

 

26. Juli 2011 08:48:28

… Stadtführer: Ecke Brunnenstraße

Die Brunnenstraße, die Invalidenstraße und auch die Veteranenstraße, gleichfalls der Ursprung ihrer Namen, gehen auf das 18. Jahrhundert und Friedrich II zurück. Die Quelle Gesundbrunnen einerseits und die militärischen Gegebenheiten Preußens andererseits führten schließlich zur Namensgebung. Für die Brunnenstraße – im Wedding war die Industriealisierung (z.B. AEG) Anfang des 20. Jahrhunderts besonders stark sichtbar – wurde um 1910 die erste und einzige Schwebebahn Berlins geplant, dann aber doch die U-Bahn gebaut. Heute ist die Brunnenstraße tatsächlich weder für das Einkaufen, noch für das Flanieren besonders zu empfehlen, höchstens für das Durchfahren. Die querende Invalidenstraße ist in ihrem westlichen Abschnitt zur Zeit Dauerbaustelle, während die kurze Veteranenstraße die Verbindung zur quirligen Kastanienallee und beginnenden Touristenzone herstellt.

An der Ecke Brunnen/Invalidenstraße dämmert ein leeres, dreigeschossiges Haus mit graubraunem Putz, der bereits an einigen Stellen abgefallen ist, vor sich hin. Direkt im Erdgeschoss – die hellbraun gefliesten Außenwände bilden den einzigen Schmuck dieses Gebäudes – befand sich ein Geschäft, in dem man Tischdecken aus Kunststoff kaufen konnte. Der Verkäufer muss ein wahrer Eremit gewesen sein, denn Kunden habe ich in diesem Laden nie gesichtet. Nun dienen die Schaufenster nur noch als Plakatwand. In Nachbarschaft dieses trostlosen Eckgebäudes befinden sich in der Invalidenstraße zwei leidlich sanierte Häuser, mit einem Bestattungsgeschäft (Jestorben wird imma) und einem Optiker, die beide die jüngsten Zeiten überdauert haben. Einige Meter weiter hat uns Meister Schinkel die architektonisch eher schlichte Elisabethkirche hinterlassen.

An der beschriebenen Kreuzung befindet sich nördlich der Veteranenstraße das 1904 als Warenhaus am Weinberg (einzige Berliner Kaufhaus von Jandorf, das den zweiten Weltkrieg unbeschadet überstand) erbaute prächtige Gebäude, welches zu DDR-Zeiten das Modeinstitut beherbergte. Wohl gibt es einen neuen Eigentümer; aber das Gebäude steht jetzt seit 21 Jahren leer. Kein Wunder, dass der gegenüber, am Rande des Weinbergsparkes sitzende Heinrich Heine, leicht spöttisch dreinblickt. Der kleine Park hinter ihm, in dem vor Jahren noch Drogendealer für Unruhe sorgten – ganz verschwunden sind sie nicht – ist inzwischen wieder stark frequentierter Erholungsort für die im Dreh wohnenden Berliner aller Art, insbesondere die Neuberliner, geworden. Wer sich im Sommer auf der westwärts abschüssigen Wiese sein Abendbier von der Sonne bescheinen lässt, wird die grüne Umgebung mit dem kleinen Seerosenteich schätzen.

Die südliche Brunnenstraße hat ihren Charakter noch nicht gefunden. Während der nördliche Teil, jenseits der Bernauer, bereits seit Jahren einen Mix aus mehr oder weniger florierenden Gaststätten, Internet- und Telefonläden, sowie Lebensmittel- und Friseurgeschäften anbietet, taumelt der südliche Abschnitt zwischen Geschäftseröffnung und -aufgabe, Gyros und Galerie, Antipasti und Antikapitalismus hin und her. Während es auf den Hinterhöfen der Nummer Sieben z.B. heißt: „REFUGEES WELCOME. TOURISTS PISS OFF“, hat nebenan im Vorderhaus das Geschäft einer größeren Bio-Kette eröffnet. Derweil an der Fassade der Hausnummer Zehn in übergroßen Buchstaben zu lesen ist: „DIESES HAUS STAND FRÜHER IN EINEM ANDEREN LAND“, werden in der Nummer Fünf viele derjenigen durch die Sozialstation Mitte/Prenzlauer Berg und die Volkssolidarität betreut, die in diesem teurer werdenden Berlin immer weniger eine Chance haben.

 

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13. Juni 2011 21:35:56

… zu Pfingsten: Originales und Originelles

Es ist immer interessant, nach dem Denken, Fühlen und Handeln der Menschen zu fragen. Was bewog zum Beispiel den Hauseigentümer in der Revaler Straße, an seine Hauswand den, aus einem Ovid-Zitat herrührenden, Spruch „Tempora si fuerint Nubila solus eris“ (Wikipedia: „Im Unglück wirst du allein sein“) anbringen zu lassen? Hatte er, um nur zwei Möglichkeiten anzuführen, bereits beim Kauf die Vorahnung, dass er seinen Kredit nie würde zurückzahlen können oder schwante ihm bereits zu diesem Zeitpunkt, dass seine Frau ihn verlassen würde?

Ebenso unbekannt sind die Motive jenes Sprayers, in erwähnter Straße auf einem Hausdach, dass von der Fussgängerüberführung am S-Bahnhof Warschauer Straße gut sichtbar ist, den Spruch „DEUTSCHLAND VERRECKE!!! KOPI BLEIBT!“ für die lesende Nachwelt zu hinterlassen. Vielleicht hat der Mann weder Arbeit noch Wohnung und seine Wut ist groß. Möglicherweise führt er aber auch ein ganz zufriedenes Leben und zieht mit seinen Spraydosen durch’s Land.

Auf dem vormaligen RAW-Gelände, südlich der Revaler Straße, welches den Eindruck eines in Auflösung befindlichen Lagerplatzes macht, scheint es überwiegend glückliche Menschen zu geben. Während sich am gestrigen, frühen Abend einige gutgelaunte Bewohner, mit einer Flasche Bier in der Hand, von der Sonne den Nebel des Vorabends aus den Köpfen vertreiben ließ, gingen andere ihrem Beruf nach und bedienten Gäste. Dass auf dieser besonderen friedrichshainischen Enklave deutsche Edelautos u.a. mit den Kenzeichen WI… und ERH… herumstanden, irritierte nicht nur auf den ersten Blick.

Beeindruckend war der Menschenstrom, der sich – ameisenkolonnengleich – vom S-Bahnhof Warschauer Straße hin zum gleichnamigen U-Bahnhof, weiter über die Oberbaumbrücke nach Kreuzberg und andererseits die Warschauer hoch bewegte, wobei  ein kleiner Teil der Menge auch in die touristisch überfrequentierte Simon-Dach-Straße abbog. Nur vereinzelt waren Pfingstausflügler hingegen in der Oberbaumcity vertreten. Hier, an der leider geschlossenen Zwinglikirche und den historisch interessanten, sanierten Industriebauten (heute BASF, früher NARVA, ganz früher Osram und Wasserwerke) mit dem ersten Hochhaus Berlins in der Rotherstraße, waren die Bewohner des Viertels überwiegend unter sich.

Sehr eng unter sich war man am Sonnabend im Schienenersatzverkehr von Storkower Straße Richtung Schönhauser. Der Busfahrer gab sich große Mühe, mitfahrende Touristen, vielleicht auch ein paar neue Zuzügler zu erschrecken. Er fuhr schnell, bremste scharf und brachte seine Durchsagen mit Grabesstimme und ohne jede Emotion über das Mikrofon. Busfahrer und Politessen sorgen ja ab und zu dafür, dass die Begeisterung der Einheimischen und Besucher für Berlin auch mal abgekühlt wird. Zu Stadt-Originalen werden beide Berufsgruppen damit aber noch lange nicht.

 

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29. März 2011 19:46:43

… vorgestellt: Nr. 09030292

Dort, wo sich der Weddinger Teil der Gartenstraße, der Ackerstraße, die Liesen- und Scheringstraße in einem großen Rund vereinen, überspannt sie stützenlos die entstandene Verkehrsinsel und zeigt dabei ihre bemerkenswerte Länge von ca. 90 Metern: Die Liesenbrücke. Sie wurde 1891/92 bzw. 1896 als Verbindungsglied der Eisenbahnstrecke Berlin-Stettin erbaut. Das stählerne Bauwerk besitzt jedoch seit 1952, der Stilllegung (und dem anschließend folgenden Abriss) des Stettiner Bahnhofs, keine technische Funktion mehr, wurde aber unter der oben genannten Nummer in den Denkmalschutzbestand des Landes Berlin aufgenommen.

Das heute dominierende Merkmal der Liesenbrücke ist der Rost, welcher – insbesondere bei bedecktem Himmel – dem, ohnehin ziemlich trostlos wirkenden, Rund eine düstere Schwere verleiht. Die Brücke war seinerzeit eine ingenieurtechnische Meisterleistung und ein Solitär. Deshalb soll das Bauwerk nach dem Willen des Landesdenkmalamtes und des Bezirkes Mitte auch weiterhin unter Denkmalschutz stehen. Was Die Bahn mit ihrem Erbe noch vorhat ist nicht bekannt, aber ein Abriss steht nicht zur Diskussion. An die Untere Denkmalschutzbehörde Mitte wurde dagegen von dritter Seite die Idee herangetragen, auf der größeren Brücke ein kleines Hotel (?!) zu errichten und auf der kleineren, westlicheren, den von Süden kommenden Wander-/Radweg fortzuführen.

Durchquert man den vor zwei Jahren neu angelegten Mauerpark nördlich der Julie-Wolfthorn-Straße , stößt man am Ende auf den rostbraunen Veteranen. Seine Unterkonstruktion ist mit einem Drahtgitter, als Schutzvorrichtung gegen abfallende Rostteile, versehen. Selbst die Natur hat vor dem ausgedienten Stahlgerüst anscheinend Respekt, denn nur an wenigen Stellen sind Sträucher durch die Öffnungen der Unterkonstruktion gewachsen. In diesen Tagen präsentieren sich sogar ein paar Weidenkätzchen. Die Flora wird aber, wenn man ihr Zeit lässt, die alte Brücke voll in ihr planloses Wachstum integrieren. Aber der Mensch könnte auch verändernd eingreifen und ihr wieder ihre verbindende Funktion zurückgeben. Ein autofreier, teilweise begrünter Weg von Mitte nach Prenzlauer Berg. Das wäre doch was!

PS: Wer die Brücke besichtigt, kann gleich noch ein paar Schritte weiter laufen und auf dem Friedhof II der Französisch-Reformierten Gemeinde in der Liesenstraße die Mütze vor einem der bedeutendsten Brandenburger lupfen, denn hier befindet sich die Grabstätte von Theodor Fontane.

 

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6. März 2011 11:25:21

… erstaunlich: „The New York Times“ entdeckt jetzt Fallada

In der vergangenen Woche entdeckte ich ihn im Schaufenster eines Bücherladens: Hans Falladas Roman „Jeder stirbt für sich allein“. „Ein literarisches Großereignis“ meint dazu „The New York Times“ auf dem Werbeflyer des Aufbau-Verlages. Ich habe das Buch (Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1. Auflage 1981) schon vor einigen Jahren gelesen. Die Erstausgabe erschien 1947 ebenfalls dort.

Einige kennen ihn gar nicht: Hans Fallada (Rudolf Ditzen). Er schrieb in „Ein Mann will nach oben“ so anschaulich über Berlin, als ob er immer in dieser Stadt gelebt hätte. Wenn man eines seiner Bücher, wie eben jenes über das Berlin rund um den Stettiner Bahnhof (heute DB-Neubauten bzw. Nordbahnhof) oder anderes gelesen hat, wird man viele seiner Helden nicht mehr vergessen: Pagel, Lämmchen, Karl Siebrecht, Anna und Otto Quangel und viele andere. Seine Protagonisten haben immer etwas von ihm, von seinem Leben voller existentieller Unsicherheit, Verzweiflung, Sehnsucht, Lust, aber auch der Gutwilligkeit und Gutgläubigkeit. Hans Fallada erzählt in seinen Romanen über das flirrende oder ganz gewöhnliche Leben, er läßt Menschen abstürzen und wieder aufstehen, durchmisst die Irrungen, Ängste und die Not eines Getriebenen, der er selber immer war. Aber er beschreibt auch den Optimismus, das Streben und Glück seiner Helden, dieses wunderbare Durchhalten und Ankommen, welches er mit lebendiger und oft meisterhafter Sprache dem Leser ans Herz führt. Fallada selbst war anscheinend immer nur Gast in seinen Lebensstationen, in Verzweiflung und verzehrendem Suchen nach Halt. Was er sich im Leben in nur geringem Maße schuf und fand, lebt in seinen Büchern. Fast möchte man meinen: Je schlechter es in und um ihn war, umso besser schrieb er.

Hier nur Beispiele: In „Der eiserne Gustav“ läßt Fallada seinen Held Gustav Hackendahl in der Zeit des aufkommenden und obsiegenden Automobils mit der Droschke von Berlin nach Paris kutschieren. Der alte Hackendahl will sich mit Tradition gegenüber dem Neuen behaupten, seiner Familie auch weiterhin Halt und Vorbild sein. Wolfgang Pagel – in der Verfilmung (TV DDR) von „Wolf unter Wölfen“ (1965) mit dem jungen Armin Mueller-Stahl – schlägt sich in der Zeit der Inflation und Wirtschaftskrise 1922/23 durch das Leben und gerät in die Wirren dieser Zeit. „Kleiner Mann, was nun“, der Roman, durch den Fallada weltberühmt wurde und der von der zähen Überlebenskraft der „kleinen Leute“ erzählt (TV DDR 1967 mit der großartigen Jutta Hoffmann als Lämmchen, TV BRD 1973) und schließlich „Jeder stirbt für sich allein“, 1947 in wenigen Wochen geschrieben. Dieser Roman erzählt in dichter Form – teilweise auf Tatsachen beruhend – über ein älteres Berliner Ehepaar, welches in der Nazizeit seinen persönlichen Widerstand geleistet hat. Dieses Buch – Fallada schrieb es, obwohl bereits sehr krank – ist spannend wie ein Krimi – es wurde in BRD/DDR insgesamt dreimal verfilmt – aber schlussendlich auch ein Leseereignis bedrückendster und berührenster Art. Der, durch Ereignisse der letzten 22 Jahre nun andere, Aufbau-Verlag hat jetzt dieses Buch in „ungekürzter Originalfassung“ (Aufbau-Verlag) herausgebracht.

Fallada starb 1947. Seine Bücher sind aber auch heute lesenswert, einige Filme in jeder guten Videothek auszuleihen. Abschließender Tipp: Der Besuch der Hans-Fallada-Gedenkstätte in Carwitz (Nähe Feldberg) und der schönen Umgebung ist empfehlenswert.

 

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16. Februar 2011 09:49:15

… wörtlich: Gysi, Gast und Goldfisch

„Im Anfang war das Wort“. (Ein Satz wie ein Felsen). „Rede mit mir“, bittet der fremdgängerische Mann seine Ehefrau. „Der Worte sind genug gewechselt, lasst mich auch endlich Taten sehen!“, meint Goethes Direktor im „Faust I“. Widersprüchliches: Halte den Mund, aber gib mir Dein Wort. Thomas Gottschalk macht nun beides und beendet seine „Wetten das“-Laufbahn, die ja auch vor allem eine Lizenz zum Reden, zum Fragen enthielt.

Das Deutsche Theater veranstaltet seit geraumer Zeit die Gesprächsreihe „Gregor Gysi trifft Zeitgenossen“. Gysi und sein jeweiliger Gast präsentieren sich an ausgewählten Sonntagen um 11.00 auf der Bühne und reden miteinander. Zeugen dieses Gesprächs sind zwei, munter in einem Aquarium schwimmende, Goldfische und ein, in aller Regel, vollbesetzter Zuschauersaal. Gysi gibt hier nicht den Parteipolitiker, sondern nahezu ausschließlich den freundlichen, gut vorbereiteten Gastgeber, der sowohl dem Bühnenquartett, als auch dem Publikum das Gefühl vermittelt, einem besonderen Sonntagvormittag beizuwohnen. Auf der Bühne regiert die höfliche Distanz, die bohrende Frage, das nachdenkliche Gesicht, der übersprudelnde Mund, das phänomenale Gedächtnis, die überraschende Information, der gut erzählte Witz, die genuschelte Erklärung, die stumme Betroffenheit und manchmal ein reiches, im Zeitraffer erzähltes, Leben. Ein einziger Mensch steht hier im Mittelpunkt und ein anderer – jenseits aller Hektik – befragt ihn. Gysi hangelt sich mit seinen Fragen am Lebenslauf seines Partners entlang, besucht auch die Nebenstationen und hinterfragt Motive und Gefühle. Das ermöglicht Aufmerksamkeit, füllt die Bühne und beansprucht Kopf und Herz des Zuschauers hinreichend. Das Gespräch bringt ihn zum Staunen, Nachdenken, Lachen und entlässt ihn nach gut zwei Stunden verändert in den Tag.

Die Liste der bisher eingeladenen Gäste ist lang und vielsagend. Um nur einige zu nennen: Klaus Maria Brandauer, Kurt Maetzig, Peter Scholl-Latour, Wladimir Kaminer, Hape Kerkeling, Thomas Langhoff, Wolfgang Kohlhaase, Roger Willemsen und jüngst Mario Adorf. Besonders interessant war es immer dann, wenn dem Prominenten etwas entlockt werden konnte, was er nicht schon mal im Fernsehen von sich gegeben hat. Das gelingt oft gut, denn eine Kamera ist hier nicht dabei. Eine überproportionierte Selbstdarstellung musste man bei dieser Gesprächsreihe bisher selten erleben, aber auch sie gehöre dazu.

Die Veranstaltungen sind, wie nicht verwunderlich, lange vor dem Termin ausverkauft. Dass ich mit diesem Text die Karten-Chancen nicht gerade verbessere, liegt auf der Hand. Aber: Auf Qualität muss man hinweisen. Das nächste Gespräch findet am 27. März 2011 statt. (Eintritt: 8,- €uro) Gast ist der frühere sowjetische Botschafter (1971-78 in der BRD), Diplomat und jetzige Journalist Valentin Falin.

 

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27. Dezember 2010 02:24:13

… am Fluss: Thomas Rauchfuß im Rio Grande

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Seit Februar des Jahres heißt die Straße am Westufer der Oberbaumbrücke nicht mehr Groebenufer. Sie war bis dahin nach Otto Friedrich von der Groeben (1657-1728) benannt, der im ehemalig kurbrandenburgisch annektierten Ghana einen Sklavenverschiffungshafen errichtete, von wo aus über 30000 Afrikaner verschifft und verkauft wurden. Statt dem schändlichen Kolonialismus auf diese Weise noch nachträglich und fortgesetzt Ehre zukommen zu lassen, erinnert der neue Straßenname „May-Ayim-Ufer“ nun an eine Pionierin der afro-deutschen Kulturbewegung. Und das ist gut so!

An diesem Ort, an dem die jetzt wieder vollständig renovierte Doppelanlegestelle aufgebaut wurde, residiert das Restaurant Riogrande geführt von Edith Berlinger und Dietmar Schweitzer, dem österreichischen Pärchen, das durch das Horváth am Paul-Linke-Ufer und das Jolesch (inzwischen abgegeben) in der Muskauer Straße reichlich Erfahrung mitbringen. Schon im Jolesch hing sehr lange ein imposanter neoexpressiver Triptychon von Thomas Rauchfuß, auf dem eine Gesellschaft rund um ein auf dem Tisch liegendes, blutend aufgeschlitztes Schwein feiert. Nun am neuen Ort hängen wieder drei Bilder, auch sie gehören zusammen, sind aber doch einzelne Bilder. … Weiterlesen

 

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21. Dezember 2010 09:33:47

… nachdenkend: Über Tucholsky

Nach ihm sind in Berlin heutzutage Schulen, Straßen, Büchereien und sogar Gaststätten benannt, letzteres hätte ihm vielleicht besonders gefallen. Kurt Tucholsky wurde am 9. Januar 1890 im Stadtteil Moabit geboren. Er liebte seine Stadt und die Menschen, wenn auch nicht jedermann und zu allen Zeiten. Das er, trotz gutbürgerlicher Umgebung, in der er aufwuchs, auch von den einfachen Leuten wusste, zeigt z.B. sein Gedicht „Danach“, das auch heute noch viele kennen. Aber auch dem – alle Gesellschaftsordnungen überlebenden – gemeinen Arschkriecher (Homo Sapiens Anusensis) hat er mit „Karrieren“ (1930) ein paar markante, bleibende Zeilen hinterlassen. Was mir bei Tucholsky besonders gefällt: Dass er in seinem Schaffen auch ab und an mal berlinerte, so wie u.a. in seinem, ebenfalls zeitlosen, Gedicht „Beit Friehstick“ (1931) so wunderbar vorgeführt. Alles in allem: Der Mann hat als Journalist und Schriftsteller sein Wort immer dort eingesetzt, wo ihm etwas auf- oder gefiel, aber auch dort, wo irgendetwas stank. Politisch war der „… kleine, dicke Berliner …“ (Kästner) ganz und gar nicht gemütlich, wenn es gegen Duckmäusertum, manch sogenannten Konservativen, Kadavergehorsam, Spießertum, Beamtenanmaßung, einäugige Justiz, Militarismus (hierzu u. a. das eindringliche „Drei Minuten“ aus dem Jahr 1922) und insbesondere den heraufziehenden Faschismus ging. Seine Texte in den 20-er und 30-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts waren mal Florettstiche, oft aber Säbelhiebe gegen die Herrschenden und ihr Verwaltungspersonal.

Er schrieb ein manchmal ironisches, immer reiches, insgesamt exzellentes Deutsch, welches sogar verstanden wurde.  Von seinen Gegnern nur zu gut, deshalb hassten sie ihn auch. Seine Romane (erfreulich kurz, dennoch gut), Reportagen, Feuilletons, Rezensionen (verwiesen sei auf seine Reihe „Auf dem Nachttisch“, wo er unregelmäßig Bücher damals aufstrebender Schriftsteller, wie z.B. B.Traven besprach) und Gedichte sind auch heut noch höchst lesenswert, einige sogar aktueller denn je. „Soldaten sind Mörder“, schmetterte er in „Der bewachte Kriegsschauplatz“ unter dem – er schrieb unter weiteren – Pseudonym Ignaz Wrobel 1931 aus der Zeitschrift „Die Weltbühne“ den Generälen an den Kopf. Was könnte man dem heute, bezogen auf die vielen toten Zivilisten in den Kriegen von Nahem Osten, Irak und Afghanistan, entgegenhalten? Nichts.

Tucholsky schrieb nicht nur gut und viel – es wurde auch publiziert und so lebte er zumindest zeitweise in gesicherten ökonomischen Verhältnissen. Das hinderte ihn – das Gegenteil von einem Sozialromantiker – nicht daran, sich mit den Problemen der Arbeiter und ihrer Familien schreibend immer wieder intensiv zu beschäftigen (z.B. „Bürgerliche Wohltätigkeit“ – 1929) und für sie Partei zu ergreifen. Das unterschied ihn übrigens auch von manchen heutigen Zeitgenossen (mit stabilem Einkommen), die sich mit den Kategorien Armut, Benachteiligung und Solidarität möglichst nur zu den angesagten Charity-Tagen beschäftigen wollen.

Tucholsky war ein vielseitiger Schreiber. Obwohl selbst ein linker Demokrat, hat kaum jemand davor oder danach die Demokraten (Sozialisten) so auseinander genommen, wie er,  z.B. in „Der Geschlechtslose“ (1924) oder „Feldfrüchte“ (1926). Andererseits: Wem gelang schon bis dahin eine so originelle und luftige Großstadtliebesgeschichte, obwohl sie ja im brandenburgischen handelt, wie „Rheinsberg – ein Bilderbuch für Verliebte“ (1912). Wer sonst noch hat dem Fühlen und Sprechen der einfachen Berliner ein so zurückhaltendes und gleichzeitig berührendes Denkmal gedichtet, wie er, in „>Mutterns Hände“ (1929).

Tucholsky – weil hoch gebildet und kompromisslos, zudem Einzelkämpfer – gehörte zu jenem Typ von Leuten, die sich letztlich in keiner Partei (obwohl kurzzeitig SPD/USPD-Mitglied) wohl fühlen, die aber auch keine Partei haben will. Obwohl er in den letzten zehn Jahren seines Lebens überwiegend im Ausland lebte, waren seine Analysen und Prognosen der deutschen Verhältnisse präzis und beinahe beängstigend wahr. Er wirkte bis 1932 mit Stimme und Schreibgerät gegen die, welche Deutschland in die Katastrophe führten, versuchte aber auch jene aufzurütteln, die „nur mitliefen“. Das gerade letzteres überwiegend erfolglos blieb, deprimierte ihn. Am meisten litt Kurt Tucholsky zeitlebens wohl darunter, dass sein Wunsch nach politischen Veränderungen nicht den entscheidenden Widerhall fand, der ihm auf literarischem Gebiet zweifellos beschieden war.

Mit der Machtergreifung der Nazis wurden auch seine Bücher auf dem jetzigen Berliner Bebelplatz verbrannt. Anschließend vergaßen ihn die meisten Deutschen für einige Jahre.

Zuletzt verließ den streitbaren, aber zunehmend innerlich einsamen und kranken Mann der Mut und er schwieg, am Ende aus seinem (faktischen) Exil in Hindas/Schweden. Am 21. Dezember 1935, also heute vor 75 Jahren, schied Tucholsky aus dem Leben und wurde in Mariefred, nicht weit von „seinem“ „Schloss Gripsholm“ (erschienen1931) beerdigt.

(Fakten und Daten vor allem aus: Kurt Tucholsky, Gesammelte Werke, Band 1-10, rororo, Sonderausgabe 1995)

 

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22. November 2010 00:34:40

… Zukunft, die nicht mehr ist, was sie einst war: Anmerkungen zu einer Ausstellung in Warschau

Paul Valery (1871-1945) behauptete einmal über die Zukunft, dass sie nicht mehr sei, was sie einst war. Was das in der Kunst meinen könnte zeigt das Warschauer Zentrum für Zeitgenössische Kunst aktuell mit hochspannenden Videoinstallationen, animierten Filmen und Bildern überwiegend junger Künstlerinnen und Künstler aus Ungarn, USA, Polen, China, Italien, Österreich und Südkorea. In einer von Magdalena Sawón kuratierten Ausstellungen sind Arbeiten von Tamas Banovich, Kevin Bewersdorf, Mikolaj Dlugosz, Kenneth Tin-Kin Hung, Michael Mandiberg, Eva und Franco Mattes, Joe McKay, Ursula Endlicher, Joo Youn Peak, Zach Gagen und The Yes Men im seit 1996 als Museum und Galerie fungierenden Schloss Ujazdowski zu besichtigen.

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8. Oktober 2010 17:09:58

… die Silberstadt Potosí: Eine Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt.

<br />Das Wortspiel im spanischen Titel der Schau – El principio Potosí – lässt sich nicht übersetzen. Principio heißt „Anfang“ und „Prinzip“. Doch die Idee ist unabhängig von der Sprache, in der sie präsentiert wird. Und das ambitionierte Projekt, das sich gestern Abend im HKW zum ersten Mal dem Berliner Publikum präsentierte, vermittelt vielschichtig und provokativ, worum es im Jahr 400+ der Globalisierung gehen soll. Potosí steht am Anfang des Welthandels, wie wir ihn heute kennen. Mit dem in den Bergwerken der bolivianischen Andenstadt geförderten Silber kauften die spanischen Kolonialherren Seide in China und Sklaven in Afrika. Der Reichtum der Welt – der Kaufleute und imperialistischen Monarchien und Bourgeoisien – basierte jedoch damals wie heute auf der massiven Ausbeutung der indigenen und armen Bevölkerung der Länder, deren Ressourcen die Welt braucht(e) und raubt(e). … Weiterlesen

 

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Geschichte | Gesellschaft | Kunst

 

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