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2. April 2012 00:52:05

… Kunst. Wahrheit. Wirklichkeit.

Art and Press. Internationale Künstler beziehen Position lautet der Titel einer der interessantesten Ausstellungen, die Berlin aktuell zu bieten hat. Als gelungenes Edutainment goes Art konzipiert, bietet die Schau viel Spannendes, Aufrüttelndes und Neugierigmachendes aus den Ateliers internationaler Künstler_innen, die sich, in 56 Stellungnahmen zur Zeitung als Medium der Aufklärung wie der Manipulation, als Inspiration und Denkraum, mit ihr als Material und Gegenstand der Kunst auseinandersetzen.

Ai Weiweis Rauminstallation aus einer erdbebenzerstörten Schule, in der 1000 junge Menschen starben, verweist auf eine Tragödie, über die die Presse Chinas nicht berichten durfte. Annette Messager montiert eine Le Monde Diplomatique über einem Ventilator: Dancing Newspaper steht für die Volatilität der Worte. Barbara Kruger füllt in Untitled einen ganzen Raum mit überdimensionalen Zeitungsartikeln zum Thema Migration. Gustav Metzger präsentiert in Eichmann and the angel die schusssichere Box, in der Adolf Eichmann während seines Prozesses in Israel saß, davor eine Wand aus Zeitungen. Faszinierend allein schon auf Grund von Größe und Positionierung im monumentalen Lichthof des Martin-Gropius-Baus ist Anselm Kiefers Kommentar zum Medienwandel, Die Buchstaben.

Die für mich gelungenste Kombination aus bezaubernder Ästhetik und politischem Statement ist William Kentridges Tide Table, ein wunderbares Bühnenbildtableau mit Licht- und Puppenspielen, die das mystische Afrika ebenso evozieren wie die Brutalität des Kolonialismus.

Teil 2 der von der Stiftung für Kunst und Kultur e.V. Bonn mit dem Medienpartner BILD präsentierten, und von RWE gesponserten Ausstellung ist der Historie gewidmet. Auf der Empore über dem Patio des MGB hängen jedoch nicht die Originale der Klassiker, die sich dem Thema Zeitung und Medien künstlerisch näherten – Cézannes Vater des Künstlers, Juan Gris’ Frühstück, Max Beckmanns Bildnis Minna Beckmann u.a.m. – sondern iPads, auf denen die Bilder und ergänzende Informationen zu Werk und Autor abrufbar sind. Überdies hat man von oben noch einmal einen schönen Blick auf Anselm Kiefers raumfüllende Arbeit, die es mir – Sie merken es – besonders angetan hat.

Statistisch, so lernte ich kürzlich auf einer Tagung, verbringt der/die Museumsbesucher_in im Durchschnitt zwei Stunden in einer Ausstellung. Wenn man Art and Press so richtig genießen möchte – und die Schau ist es wert! – sollte man mehr Zeit einplanen. Zu sehen ist übrigens auch Gerhard Richters Acht Lernschwestern. Falls jemand das alberne Schlangestehen rund um die Nationalgalerie gegen einen relaxten Besuch im Martin-Gropius-Bau aufgeben mag … Wobei man in der Schlange natürlich selbst zum Teil des manchmal seltsamen Verhältnisses von Presse und Kunst wird. Schließlich stehen die Massen immer vor der Ausstellung Schlange, um die die Medien den größten Hype generieren.

Art and Press. Internationale Künstler beziehen Position ist noch bis zum 24. Juni im Martin-Gropius-Bau zu sehen. Zur Ausstellung erscheint ein Katalog im Wienand Verlag.

 
 

2. April 2012 00:12:42

… Pacific Standard Time

Jedenfalls gilt diese für die großen, bunten Bilder und Mixed Media Arbeiten, die amerikanische Künstler_innen zwischen 1950 und 1980 in, für oder inspiriert von Los Angeles schufen, und die noch bis zum 10. Juni im Martin-Gropius-Bau zu sehen sind. Es ist eine beeindruckende und vielfältige Schau des Getty Research Institute und des J. Paul Getty Museum, deren einzige europäische Station Berlin ist. Präsentiert werden über 70 Werke von 40 namhaften und – hier jedenfalls – weniger bekannten Kreativen, darunter Klassiker wie John Baldessari, David Hockney, Edward Kienholz, Bruce Nauman und Ed Ruscha. Sorgfältig thematisch sortiert nach Stil, Medium oder Trend. Konzeptkunst, Pop Art, Installation, Fotografie und mehr. Viel Sonne im Golden State an der US-amerikanischen Westküste inspiriert zu farbenfroher und variantenreicher Kunst. Dabei kommen die politische Kunst und die künstlerische Auseinandersetzung mit sozialen Fragen keineswegs zu kurz. In einem eigenen Raum finden sich Berliner Visionen von Sam Francis und Edward Kienholz, die auch in und für Berlin Kunst gestalteten.

In einer Ausstellung in der Ausstellung thematisieren die Grüße aus LA mit weiteren 200 Exponaten die Beziehung zwischen Kunst und Gesellschaft: Gezeigt werden Kataloge, Postkarten, Briefe und weiteres Dokumentarisches. In einem weiteren Addendum sind die schönen S/W- Aufnahmen des Architekturfotografen Julius Shulman zu sehen.

Pacific Standard Time. Kunst in Los Angeles 1950-1980 schafft es tatsächlich, an einem von Graupelschauern durchsetzten Vorfrühlingsnachmittag etwas Licht, Sonne und Palmenrauschen aus Kalifornien nach Berlin zu bringen. Die lichte Leichtigkeit, die die Arbeiten transportieren, weckt zugleich (mindestens) einen Tick Fernweh. Während ich mich darüber freue, nächste Woche selbst in Kalifornien zu sein, setzt ein kleines Mädchen mit einem roten Anorak die Inspiration durch Lebensfreude selbst kreativ um: Sie nutzt Mary Corses Untitled (White Light Grid Series VI) als reflektierende Kulisse für Schattenspiele. Mixed Media of the coming generation!

 
 

22. März 2012 11:23:14

… übersetzt und andere Worte

Eine Ausstellung in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst und im Kunstraum Kreuzberg
Noch bis zum 15. April präsentieren die NGBK und der Kunstraum Kreuzberg im Bethanien In anderen Worten, ein Schwarzmarkt der Übersetzungen mit Arbeiten von 44 teils in Berlin lebenden internationalen Künstler_innen. Sie thematisieren kulturelle Isolation und Sprache als Herrschaftsinstrument, die sichtbaren und weniger sichtbaren Dimensionen der Vermittlung von sprach- und kulturübergreifenden Botschaften. Dabei macht die Vielfalt der gewählten Medien den performativen Reiz der Schau aus, die sich selbst wiederum im spezifischen Umfeld von Berlin-Kreuzberg als Bühne multikulturell gelebter Begegnung verortet. Den Kurator_innen geht es um Sprache – und Übersetzung – mit Blick auf Dominanz und „Minderheiten“ ebenso wie als schlicht hingenommene Gewohnheit (James Webb, Know Thy Worth), als stilprägende Microsoft-Ikone (Detanico Lain, New Roman Times), als Pseudoidentität (Graciela Guerrero Weisson, Karaoke) oder professionelle Konfusion, deren Zweck darin liegt, Klarheit zu schaffen (Christoph Keller, Interpreters, und Ofir Feldman, WordBank). 7500 Steine, die Paolo W. Tamburella für World Languages im Raum auslegt, stehen für alle lebenden Sprachen, die jeweils für sich existieren, und doch Berührungspunkte haben. Sie kontrastieren mit Miguel Monroys Installation Equivalente – Belege aus Wechselstuben, in denen der Künstler so lange Pesos gegen Euros tauschte, bis die Provision, die dafür zu zahlen war, sein Geld aufzehrt.

Doch Sprache ist mehr als Worte, wie Maria Teresa Sartori in The Sound of Language akustisch belegt: Elf Enzyklopädien und Kopfhörer vermitteln den Klang verschiedener Sprachen, ohne dass man die Worte entschlüsseln könnte.

Im Verweis auf die Produktion neuer Sprachen und neues Schreiben inszeniert In anderen Worten Sprache schließlich auch als subversiven Gegenpol zum Bestehenden oder Gesehenen. Das scheinbar Simple – automatisiertes, maschinengeneriertes Schreiben oder Übersetzungen made by Google – erweist sich in Demian Schopfs Máquina Cóndor und Lorenzo Scotto Di Luzios Babbling Google als sinnlos. Der Übersetzer wird zum Retter (toter Sprachen), der er allein kann sie noch verstehen. Und so widmet Braco Dimitrijevic (1994) ihm ein Tafelbild aus Lettern: „Es lebte einst ein Übersetzer, der keine Fremdsprache beherrschte. … Er übersetzte nicht von einer Sprache in eine andere, sondern von einer in eine andere Zeit.“

Zu dieser inspirierenden Schau erschien ein zweisprachiger Katalog (deutsch/englisch). Mehr unter: www.ngbk.de.

 
 

26. Februar 2012 11:59:25

… ineinandergedreht: Ein Stück über das Rennen zur Entdeckung der DNA Stuktur. Photograph 51 am English Theatre Berlin


Eine Frau in einem wissenschaftlichen Labor, damals in den 1940ern und 50ern: Das war irgendwie immer noch ein Fremdkörper, etwas Ungeheures, etwas das nicht in die Männer-Clubs passte, das störte und alles verändern wollte. Es war eine Bedrohung der geordneten Welt, die durch die beiden Weltkriege ohnehin schon zu sehr aus den Fugen geraten war.

Heute weiß fast jeder, wie die DNA-Struktur aussieht, die typisch doppelt verdrehten Spiralkörper, auf denen die Basenpaare geordnet sind, aus denen der Code des Lebens geschrieben ist. Es sind die Datenträger der Gene, die Substanz des Genoms, das was alles was wächst zu dem macht, was es ist. Gleichartig für Mensch, wie Tier, wie Bakterie, wie Pflanze. Was heute Allgemeinwissen ist, war damals das ganz heiße Forschungsgebiet der Wissenschaft und mehrere Teams versuchten der DNA (auf deutsch DNS = Desoxiribonucleinsäure) auf die Pelle zu rücken. Ganz vorne mit dabei war die junge, aufstrebende Forscherin Rosalind Franklin, die mit Röntgenaufnahmen experimentierte und auf diese Weise sehr aufschlussreiche Schattenbilder der Helixstrukturen erzeugte. Vom Leiter des Londoner King’s College protegiert kam die bereits rennomierte Doktorin an das Institut, an dem auch Dr. Wilkins arbeitete, der seit seiner Mitarbeit an der Forschung zum Bau der Atombombe in einer heftigen Sinnkrise war. Die Beziehung der beiden „Kollegen“ lief von Anfang an schlecht, da es ein heftiges Kompetenzgerangel darum gab, wer für wen auf welchem Forschungsfeld tätig war. Außerdem passten ihre Gewohnheiten nicht zusammen, Rosalind Franklin war eher akribisch, eigenbrödlerisch, misstrauisch und wurde auch noch institutionell von gemeinsamen Essen und anderen Freizeitbeschäftigungen ausgeschlossen. Wilkins dagegen war in seinen Kreisen bestens etabliert und redete gerne und viel mit befreundeten Wissenschaftlern. Neben dem unkooperativen Team in London forschte noch das weit unkonventionellere Team, bestehend aus James Watson und Francis Crick, in Cambridge am selben Thema. Doch besonders der jüngere Watson erkannte schnell, dass sie mit einem Modell der DNA-Struktur weltberühmt werden konnten. Die beiden legeten los, machten „some sience“. Im Gegensatz zur durchleuchtenden und rechnenden Rosalind Franklin, bogen Watson und Crick mit Drähten, Klammern und Hölzchen wenig oder gar nicht funktionierende Molekülmodelle zusammen. Ein solches bekam auch Franklins Kollege Wilkins zu Gesicht, der die beiden Gegenspieler dann unvorsichtiger Weise, und aus für ihn selbst später beschämenden Motiven, mit den weiterführenden Röntgenaufnahmen aus der Hand von Rosalind Frankling versorgte. Nur so gelang es ihnen, ihr berühmtes Modell zu konstruieren, das bis heute als der Durchbruch zur Entdeckung der DNA-Doppelhelix gilt. Im Fachmagazin NATURE, in dem die Erstveröffentlichung geschah, wurden drei Artikel zusammenhängend gezeigt. Auch Rosalind Franklin hatte ihre Berechnungen soweit gebracht, dass sie mit ihrem Artikel das Watson-Crick-Modell „bestätigte“, wobei deren Modell ja tatsächlich eher darauf „basierte“. 1962 bekamen aber nur die Männer Watson, Crick und Wilkins den Nobelpreis dafür. Rosalind Franklin war zu diesem Zeitpunkt schon an Krebs verstorben.

Im English Theatre Berlin wird das verdrehte Stück, bei dem ständig Personen von ganz unterschiedlichen historischen Orten (London, Cambridge, Amerika, Paris, Schweiz) innerhalb von einzelnen Sätzen verschränkt auftreten, vor allem durch die Lichtinszenierung entwirrt. Dies ist eine grandiose Analogie zur auf der Bühne durchgeführten Forschung mit Röntgenaufnahmen, deren kristaline Fotoergebnisse fast wie die Grundskizzen zum Bühnenaufbau wirken. Ebenso verschränkt wie sich im Laufe des Stücks die DNA-Struktur zeigt, wird auch das Rennen darum, wer als erstes über das Thema publizieren kann, inszeniert. Die gesellschaftlichen Codes der 50er-Jahre-Forschergemeinde werden sichtbar. Es ist ein zügiger Einakter (erst 2008 von Anna Ziegler veröffentlicht), ein sich zuspitzendes Sprech-Stück, bei dem besonders über die Randfiguren amüsante Sidekicks eingeworfen werden.

Photograph 51 am English Theatre Berlin – noch bis zum 10 März (immer 20:00 Uhr außer sonntags und montags).

 

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18. Februar 2012 00:19:48

… ein Entwurf: Anna Huber und Yves Netzhammer – Aufräumarbeiten im Wasserfall

Geometrie, Orthogonalität, Radien, Gelenkverkettungen in großer Präzision, Quadrate, Kugeln, Flächen, Räume.
Alles ist mit grundlegenden 3D Körpern bespielt, alles hat seine Ordnung, scheint in Ordnung. Kitschige Projektionen machen den Anfang: Eine große Sonne über einer heilen Welt – Kraniche fliegen über Berge, Dörfer, Einfamilienhäuser. Aber es ist eine kalte Konzeptwelt des Scheins, in der keine echten Menschen leben, sondern Gliederpuppen eingesetzt wurden, überwacht von Hubschraubern, umstellt von Gerüsten und Zäunen, die die Kulissen zusammenhalten. Hier ist nichts gewachsen, sondern alles gemacht und manches dabei nichts geworden. Diese Welt muss im Detail nachgearbeitet werden, mit riesigen Zahnbürsten geschrubbt werden, als wäre ihr Schöpfer unzufrieden mit dem gegenwärtigen Stand der Dinge. Und dann plötzlich ist da in mitten der Kunstwelt-Projektion ein Schatten von etwas Lebendigem, ein Mensch dringt darin ein, oder taucht vielmehr aus ihr auf, tritt in Kontakt und in den Dialog mit einer der Gliederpuppen. Diese zeigt voller Übermut gleich ein Kunststückchen, lässt ein paar ihrer Gliedmaßen fernab ihres Körpers durch den Raum tanzen, und doch ist gleich zu spüren, dass die echte Lebendigkeit der Tänzerin so viel mehr zu bieten hat. Die Tänzerin übernimmt nun die Eckigkeit der Gliederpuppe erkundet den Konzeptraum, als wolle sie ihn vermessen und austesten. Es wird eine Art Belastungsprobe für Mensch und Material, die so anstrengend ist, dass die lebende Tanzpuppe zwischendurch doch ganz aus der Rolle fällt, Pause machen muss, um sich um die körperlichen Bedürfnisse zu kümmern. Sie muss essen, trinken und darf dabei ganz Mensch sein. Die 3D-Puppe sieht in einer Mischung aus Irritiertheit und Neid dabei zu. Letztlich verliert die menschliche Tänzerin auch die Nerven, rafft die gesamte Geometrie der Bühneninstallation zusammen und gibt der Gliederpuppe den ganzen Konzeptmüll wie ein getragenes Kleid zur Wäsche zurück.

Die Zusammenarbeit der Tänzerin und Choreografin Anna Huber und des Bildenden Künstlers Yves Netzhammer erwies sich als sehr ergänzend und ungemein fruchtbar. Beide künstlerischen Handschriften sind deutlich und unverfälscht sichtbar und wirken zusammen gegenseitig erhellend. Das Tanzstück „Aufräumarbeiten im Wasserfall“ ist eine intensive Performance auf der Schnittstelle zwischen darstellender und bildender Kunst, mit reichlich Zitaten aus der Kunstgeschichte. Für Momente scheinen Oskar Schlemmers Figurinen, Luise Bourgeois Spinnen und Alexander Calders Kinetische Objekte mit in dieser verdrehten M. C. Escher-Welt zu sein, doch die formale Sprache der beiden Zeit- und Eidgenössischen Künstler ist immer stark genug, um die Performance zu einem eigenständigen Ästhetischen Erlebnis zu machen.

Sehenswert: in den Uferstudios im Wedding

 

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16. Januar 2012 13:37:50

… Ort der Umwandlung: Sarrazins Buch wird abgeschafft

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Das in voller Gesellschaftsbreite durchdiskutierte und trotzdem wenig gelesene Buch (auch von mir nicht) von Thilo Sarrazin „Deutschland schafft sich ab“ ist inzwischen das meiste verkaufte Sachbuch eines deutschen Autors in der Nachkriegszeit. Rund 1,3 Millionen Exemplare haben es in die deutschen Buchregale geschafft, wo sie nun vermutlich neben anderen ungemein sachdienlichen Büchern von Hans-Olaf Henkel oder Karl Theodor zu Guttenberg stehen. Weil derartige Belastungskörper natürlich besser schnellst möglich anderen Nutzungen als der allgemeinen Volksverblödung zugeführt werden sollten, hat nun anlässlich der kommenden siebten Berlin Biennale der tschechische Künstler Martin Zet die Buchsammel-Aktion „Deutschland schafft es ab“ gestartet, deren Ziel es ist, möglichst viele der Sarrazinischen Schriften zusammenzubringen, um sich so davon zu entledigen. Die Berlin Biennale wird in dieser Angelegenheit organisatorisch unterstützend tätig und wird deutschlandweit den Büchertransport übernehmen.

Die Aktion wurde am 12. Januar veröffentlicht und bereits jetzt gibt es einen erwartungsgemäßen Aufschrei von Menschen, die eine zentrale, politisch motivierte Büchervernichtung erwarten. Das seien „Nazimethoden“ ist als einhellige Meinung zu hören und alle befürchten eine Bücherverbrennung, als könnte ein zeitgenössischer Künstler keine kreativere Strategie entwickeln, als alle Bücher auf einen Haufen zu werfen und ein bisschen mit dem Feuer zu spielen.

Ich finde die Aktion sehr spannend, gerade weil die politischen Lager so wunderbar aufgemischt werden:
Heftige Sarrazingegner werden zu Gegnern einer Gegen-Sarrazin-Aktion. Sarrazinbefürworter, die vermutlich auch schon mal den Koran einer organisierten Verbrennung zuführen würden (böses Vorurteil!), dürfen sich als Opfer einer politischen Säuberungsaktion begreifen. Und die ganze Aufregung schon im Vorfeld, bevor überhaupt irgendjemand weiß, was aus den hoffentlich vielen Büchern entstehen wird, die Martin Zet einsammeln kann. Vielleicht baut der Künstler ja ein Haus der Verständigung daraus, oder er lässt sie in einem Meer der Tränen schwimmen – wer weiß …

Die Berlin Biennale hat jedenfalls schon drei Tage nach der Erstveröffentlichung der Aktion folgende Klarstellung verbreitet:
„Martin Zet ruft Personen, die sich aus unterschiedlichsten Gründen von dem Buch „Deutschland schafft sich ab“ von Thilo Sarrazin trennen möchten, auf, es einer künstlerischen Aktion zu spenden. Entstehen soll eine Installation, deren Größe und Ausdruck abhängig ist von der Anzahl der gespendeten Bücher. Während der 7. Berlin Biennale für zeitgenössischen Kunst wird Martin Zet gemeinsam mit dem Publikum an der Frage arbeiten, welchem Zweck die Bücher anschließend zugeführt werden. Das Kunstprojekt hat nicht eine Büchervernichtung zum Ziel, sondern der Künstler verbindet mit der Spende und der Transformation der Bücher einen Akt des Widerstandes gegen den anti-migrantischen und polarisierenden Inhalt des Buches mit künstlerischen Mitteln.“

Das ist leider enttäuschend: Muss wirklich das Publikum in einer Basisdiskussion über den Verbleib der Bücher entscheiden? Warum dieses Einknicken? Ich wünschte mir stattdessen einen wirklich selbstbestimmten, künstlerischen Akt. Martin Zet soll einfach bestimmen, was mit den Büchern zu passieren hat und dann auch persönlich dafür grade stehen. Aber wie es aussieht wird man an einem kleindiskutierterten Konsens mit womöglich paritätischer Aufteilung nicht vorbeikommen. Doch dafür hätte ich natürlich auch gleich eine Lösung parrat: 98 % der Bücher werden dem Wertstoff-Recycling zugeführt und der Erlös dafür einer Vielzahl von Organisationen zur Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund gespendet (ein Bewerbungsverfahren für die Organisationen kann unverzüglich eingeleitet werden) und 2 % dürfen von einer radikalen Minderheit öffentlich und fröhlich verbrannt werden.

Übrigens: Das private und einzelne Buchverbrennen ist im Gegensatz zur politisch motivierten, öffentlichen Autodafé ein Akt der inneren Reinigung und im Falle der Verbrennung im heimischen Ofen auch noch eine relativ nützliche Angelegenheit, sofern es im Winter geschieht. Das kann ich aus eigener Erfahrung sehr empfehlen.
Die reguläre und täglich praktizierte Art des massenhaften Bücher-Recylings ist hingegen ein sehr unterkühltes Verfahren: kleinhäckseln, einweichen, vermengen und zu minderwertigem Papier verarbeiten. Mit solchem kann man sich dann entweder den Hintern abwischen oder Paperback-Auflagen drucken. Ob es zwischen diesen möglichen Nutzungen eine moralische Wertigkeit gibt, sein dahingestellt.

 

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29. Dezember 2011 12:00:34

… so oder so: Missverständliches

„Engel“ -Bestattungen, Invalidenstraße 1a, 10115 Berlin und Engel-Bestattungen, Schönstraße 1a, 13086 Berlin. http://www.engel-bestattungen.de/kontakt.html

 

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Alltägliches

 

23. Dezember 2011 21:39:32

… ein Kurzkrimi: Lissy’s Sturz

Roy hatte etwas Jungenhaftes und Gutmütiges an sich. Beides war erkennbar in seinem Gesicht vereint. Er nahm das Leben (auch in seinem Beruf als Programmierer, in dem er sehr gut verdiente) so wie es kam. – Dieser Dezembersonntag ließ sich gut für ihn an, denn die Wege waren schneefrei, die Luft feucht, aber nicht kalt. Seiner üblichen Runde mit dem Mountainbike stand also nichts im Wege. Von der Invalidenstraße bog er hinter dem Bundeswirtschaftsministerium auf den Weg entlang des Berlin-Spandauer-Schifffahrts-Kanals ein und fuhr, vorbei an den westwärts der Wasserstraße gelegenen Lagerhallen – teilweise alten, dennoch schönen Klinkerbauten, zwischen denen das Unkraut seit Jahren wuchert – zügig Richtung Wedding. Roy passierte den Invalidenfriedhof und obwohl ihn Geschichte eigentlich kaum interessiert, wollte er sich schon längst einmal mit einigen der auf den Grabsteinen verewigten Namen, mit sehr unterschiedlicher Herkunft, beschäftigen. Dann radelte er an den Vierstöckern in der Kieler Straße vorbei, wo ihn die Drahtgitter der Balkone jedes Mal wieder an die Käfighaltung von Hühnern erinnerten. Schon kamen rechterhand die, selbst heute noch modern wirkenden, Bauten der ehemaligen Schering AG in den Blick. An der Stelle, wo der Weg die Brücke an der Sellerstraße unterquert und zum Wasser hin stark abschüssig wird, fuhr er langsamer. Unmittelbar hinter dem Brückenfundament sprang plötzlich ein vermummter Mann aus dem Gebüsch hervor, stieß ihn mit voller Wucht um, so dass er mit seinem Rad auf den Uferbeton stürzte und beinahe in den trüben Kanal gefallen wäre.

Lissy – Krankenschwester von Beruf – tastete mit beiden Händen vorsichtig Hals und Wirbelsäule des muskulösen Mannes ab. Ihre Hände gingen sehr sanft vor, was mit ihrem Gesichtsausdruck korrespondierte, der beinahe so etwas wie Erleichterung ausstrahlte.“Ich muss trotz des Helmes irgendwas abbekommen haben, kann den Kopf nicht mehr richtig heben“, flüsterte Roy und ein leises Stöhnen erfüllte den Raum, der von Kerzen erleuchtet war. „Wenn ich den Kerl nur erkannt hätte, aber als ich wieder zu mir kam, war er weg.“ Lissy küsste den Nacken des vor ihr liegenden Mannes an verschiedenen Stellen, als ob sie dadurch den Schmerz lokalisieren und lindern wollte. Roy liebte diese aparte Frau mit der sportlichen Gestalt und sie wusste es. Nur ihr deutliches Interesse für schönes Leben und Luxus verstörte ihn manchmal, genauso wie ihr zuweilen rätselhafter oder abwesender Blick. – „Du musst nochmal zum Arzt; wenn der Notarzt auch keine Gehirnerschütterung festgestellt hat – es ist zu riskant – man wird eine MRT-Untersuchung von Hals und Wirbelsäule machen müssen. Wir dürfen“, lächelte Lissy ihren Freund hingebungsvoll an, „unseren Urlaub nicht gefährden – es wird jetzt schwierig, noch einen Termin zu bekommen, aber ich rede mal mit Torsten.“ Roy zuckte bei diesem Namen zusammen. „Ausgerechnet dein Ex, dieser Besserwisser“, kam es aus ihm heraus. Lissy lachte jetzt laut auf. „Er weiß nichts von dir, aber es wird sein letzter Dienst für uns beide. Und vergiss nicht: Torsten ist ein guter Arzt.“ Roy wusste das, aber er ahnte auch, warum Lissy immer noch an diesem Mann hing.

Der Termin im Krankenhaus Friedrichshain kam erwartungsgemäß noch kurzfristig zustande. Die Schwester gab Roy einen Fragebogen zum Ausfüllen und wies anschließend darauf hin, dass die Untersuchung ca. 20 Minuten dauern würde. Außerdem: Da diese Technik – Roy war, immerhin war es neue Medizintechnik der Firma Siemens, über die Aussage der Schwester etwas erstaunt – nicht unerhebliche Geräusche produzieren würde, müsse er während der Untersuchung Ohrstopfen tragen, die ihm die Schwester aushändigte. Als er sich dann auf den Schlitten legte, wurde sein Kopf arretiert und trug nun eine Art Helm. In diesem Moment kam Torsten herein, begrüßte höflich den vor ihm liegenden Patienten und übernahm nun selbst das weitere, während sich die Schwester in das Wochenende verabschiedete. Kurz bevor der Schlitten  in die Anlage, die wie ein offener Rachen auf Nahrung zu warten schien, einfuhr, hörte Roy den Arzt noch fragen: „Haben Sie denn inzwischen etwas über diesen Mann erfahren, der Sie vom Fahrrad gestoßen hat?“ Obwohl Roy die Stimme von Torsten akustisch bereits leicht verzerrt wahrnahm, glaubte er einen ironischen Unterton heraus zu hören. Aber da war er bereits mit seinem Oberkörper in der Maschine.

In den ersten Sekunden war es totenstill. Roy konnte sich nicht bewegen. Es war extrem eng in dieser Röhre und der Abstand von seinem Gesicht bis zur oberen Wandrundung betrug höchstens zehn Zentimeter. Der Mann musste seinem Gehirn befehlen, Ruhe zu bewahren, um seine Platzangst zu überwinden. Dann setzte das rhythmische Klopfen der Maschine, verursacht durch elektromagnetische Wellen und Magnetfelder, ein – es war trotz der Ohrstopfen noch erschreckend laut. Dann änderte sich schlagartig die Frequenz der Klopftöne, aber die Lautstärke war nicht weniger unangenehm. Dann folgte erneut ein Wechsel der Klopfrhythmik.- Roy war angespannt, aber er konnte kein System heraushören und spürte, wie Beklemmung in ihm aufstieg. – Woher wusste dieser Torsten eigentlich von diesem Detail, er hatte in der ärztlichen Voruntersuchung doch einen ganz anderen Grund für den Sturz angegeben?? – Plötzlich hörte Roy die Geräusche kaum noch, etwas anderes, furchtbar Schreckliches erfasste ihn, trieb ihm den Schweiß aus allen Poren und lähmendes Entsetzen befiel ihn …

Torsten und Lissy waren auf dem Weg zum Flughafen Tegel. Sie war, was er natürlich sofort merkte, an diesem Tag in ambivalenter Stimmung. Um sie aufzumuntern, erzählte er ihr von dem Weihnachtsbaum-Kauf für seine Mutter: „Der hatte nur elende Krücken auf seinem Platz zu liegen. Dann hat mir der Verkäufer – ich glaube, ein Pole, während die Bäume aus Dänemark sein sollen, ich glaub’s nicht – einen brauchbaren gezeigt. Die Chefin wollte mir, da ich sie zappeln ließ, 15% Rabatt geben. Ich sag zu ihr, die nehm ich gern, aber der Verkäufer soll mir noch das Stammende dünner hacken, denn der Baumständer meiner Mutter ist ein uralter. Was meinst du, wie die Cheftanne geguckt hat.“ Das waren diese Geschichten, die Torsten liebte und manchmal auch Lissy. – „Hast du sein Konto abgeräumt“, fragte er nach kurzer Pause und sein ebenmäßiges, intelligentes Gesicht blieb völlig regungslos dabei. „Ja“, antwortete sie zögernd und schaute ihn dabei nachdenklich an, was ihrem schönen Gesicht etwas Klassisches verlieh. „Du brauchst keine Angst haben. Da, wo wir hinkommen, hab ich vorgesorgt.“ – „Er ist ein ehrlicher Mensch“, schob Lissy nach. „Und ein Dummkopf dazu“, trompetete ihr Ex-Freund nun plötzlich, sonst hätte er nicht auch noch seine Lebensversicherung zu deinen Gunsten ergänzt.“ Ich muss diese Frau halten, schwor er sich.

In Tegel hatten sie noch etwas Zeit und obwohl sie die Sicherheitskontrollen überzogen fanden und das Getue der dort Beschäftigten ihnen regelmäßig auf die Nerven ging, nahmen sie sich die Zeit, vor dem Abflug noch ein Bier zu trinken, denn die kostenfreie Bewirtung während der Flüge hatte inzwischen ein homöopathisches Niveau erreicht. Lissy schaute aus den Augenwinkeln in Torstens Gesicht. Sie hatte ihn, obgleich ihr nie der Gedanke an Heirat kam, immer bewundert ob seines Selbstbewusstseins, seiner Klugheit, seines sicheren Geschmacks und ein wenig auch wegen seiner Arroganz, die er immer dann zeigte, wenn etwas total von seinem Standard abwich. Dieser Mann, soviel war ihr klar, war rigoros, aber er könnte ihr auch für die Zukunft etwas bieten. Nun, sie hatte sich jetzt entschieden.

Als die Polizei beide am Check-in-Schalter festnahm, ging sein Blick sofort zu ihr. Der Gesichtsausdruck war der gleiche verächtliche wie damals, als ein erfahrener Kollege aus seinem Krankenhaus die einfache Operation verpfuscht hatte, was wirklich niemand für möglich gehalten hätte. „Ich war im Krankenhaus“, entgegnete Lissy fast tonlos. Das war’s dann für dich. Außerdem liebe ich Roy.“

Aufgrund Fluchtgefahr blieben jedoch beide in Untersuchungshaft. Torsten wegen Mordverdacht, zumindest schwerer Körperverletzung in zwei Fällen und Lissy wegen Beihilfe. Dass sich diese schöne Frau in letzter Minute für Roy entschieden und ihn aus dieser MRT-Anlage befreit hatte, belastete sie nun schwer. Der Mann, der sie einmal liebte, hatte sich entschlossen, bei der Polizei zu allen Punkten auszusagen und dabei auch erwähnt, wie sie sich seine finanziellen Ersparnisse erschlichen hatte. Für Lissy, deren gewollt flirrendes Doppelleben zwischen zwei Männern nun zu Ende ging, war all das zum Jahresende ein Sturz aus ungeahnter Höhe.

 

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23. Dezember 2011 00:20:54

… Friedrichstraße: Halblange Anbahnung

Der heutige Donnerstag, tagsüber ein nichtwinterlicher, mutierte zum Abend hin in einen beinahe frühlingshaften, nieselregnerischen. Die Bürgersteige entlang der Friedrichstraße sind dennoch leidlich ausgelastet und – um den Bahnhof herum – sieht man auch heute wieder die Anbahner. Sie bringen Protest, Mitleid, Interesse und anderes vor und an den Vorbeigehenden. Sie machen auf die geschundene Natur aufmerksam oder zeigen mit Fotos auf Unrecht und Unmenschlickeit. Die Anbahner werben um die Aufmerksamkeit der Passanten und ihr Geld.

Unmittelbar am U-Bahn-Eingang steht ein baumlanger, junger Mann, der die Berliner Zeitung anpreist. Vor ihm, sie reicht ihm nicht mal bis zur Brust, eine junge Frau, modern gekleidet, Typ Annett Louisan. Sie muss den Kopf mächtig in den Nacken legen, um zu dem Anbahner aufzublicken. Er kann, so ich ihn von weitem sehe, unmöglich von einem Zeitungs-Abo reden, dazu schaut sie viel zu verzückt nach oben. Irgendetwas Nettes süßholzraspelt ihr der Dirk Nowitzki unter den Abo-Werbern vor. Erst als ich – auf Höhe der beiden – an ihnen vorbeimarschiere, kommt die entscheidende Frage: „Na, was hälts Du denn nun von einem Probe-Abo der Berliner Zeitung?“

Da ich hinten keine Augen habe und meine Ohren mit denen der Fledermäuse nicht konkurrieren können, bleibt das Ende dieser Anbahnung leider offen.

 

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