
Über die „No-Anorexia“-Kampagnie des Mode-Labels No-l-ita regt sich die italienische Öffentlichkeit ja schon seit Wochen auf. Der „Benetton-Fotograf“ Oliviera Toscani nutzt die Werbekampagne zu einem sehr zweischneidigen Statement zum Thema Magersucht (=Anorexie). Die extrem abgemagerte, französische Schauspielerin Isabell Caro wird mit der Kampagne in meheren Ganzkörperakten gezeigt, um die Öffentlichkeit aufzurütteln. Toscani will, dass wir bei dem Thema Magersucht nicht mehr wegschauen. Das Markenlogo von No-l-ita werden wir dabei natürlich auch kaum übersehen können. Doch zum Werbeeffekt für das finanzierende Unternehemen später.
Zunächst sollte man sich fragen, warum die Kampagne so verlässlich gesellschaftliches Rumoren produziert. Denn das ist ja der Grund für die Aktion. Toscani will immer provozieren. Genauso wie Anorexie eine psychische Krankheit ist, so ist auch der Wunsch nach Provokation eine Art Krankheit des italienischen Fotografen, dessen Star-Alluren schon fast in Vergessenheit geraten waren. Er musste einfach mal wieder den großen Zampano spielen. Nun denn, es ist ihm gelungen. Also, warum gehen uns diese Bilder so an?
Die vollkommene Abmagerung fördert die Wahrnehmung des Kindchenschemas einer Frau. Die Augen treten sehr groß hervor, die Mundpartie fällt ein, alle sekundären fraulichen Merkmale bilden sich zurück. Anorexie ist Verneinung des Frau-Seins und ein Festhalten am Kindsein – zumindest visuell.
Dass die magersüchtigen Frauen sich dessen bewusst sind, zeigen die Aufnahmen, die sie sich gegenseitig in den Internetforen zeigen (zu denen ich lieber nicht verlinken möchte). Fast immer schauen sie mit gesenktem Blick, wie liebe kleine Mädchen in die Kamera und auch Isabelle Caro schaut so auf Toscanis Bildern.
Uns wird also eigentlich ein verhungerndes Kind vorgeführt, genau wie wir es aus vielen „Afrika-verhungert-ohne-deine-Hilfe-Kampagnen“ der letzten Jahrzehnte kennen. Ich will hier nicht alle Hilfe-Kampagnen und deren Stilmittel verdammen – bitte nicht falsch verstehen – aber man muss sich dieses Moment der Ansprache des Kindes an die Erwachsenen klar machen. Denn sieht man es so, tritt deutlich ein Vorwurf hervor: „Du gutgenährter Erwachsener, lässt einfach ahnungslose Kinder an deiner Seite verhungern.“ Da könnte man ja noch drüber stehen und sagen, „die wollen es ja nicht anders“. Doch in unserer christlich geprägten Welt (nicht nur in Italien), gilt das ethische Gebot der Nächstenliebe. Das Bild wirft uns also unseren Liebesentzug gegenüber den Magersüchtigen vor. Es sagt, ihr seit schlechte Mütter und Väter, wenn ihr eure Kinder so verhungern lasst. Wenn man die logische Aufforderung daraus ableitet, heißt es: „Schenke den Magersüchtigen Liebe“ oder „Liebe die Anorexie“.
Und genau da liegt das Problem an dieser Kampagne. Die Aufforderung kann in zwei Richtungen verstanden werden. Die erste, die Toscani vermutlich meint, soll uns dazu bringen, uns den Kranken anzunehmen, sie nicht ins Abseits zu drängen, ihnen psychologische Hilfe geben. Wir sollen sie im übertragenen Sinn „füttern“. Doch wer kann das denn eigentlich? Wer weiß schon, wie man mit einem magersüchtigen Mädchen umgehen soll, wie man ihm helfen kann? Das ist kein Job, den einfach jeder oder jede machen kann und schon gar nicht ein Job, den die angehörigen Eltern mit mehr Mutter- bzw. Vaterliebe erledigen können. Anorexie ist eine starke Wahrnehmungsstörung und die Betroffenen sollten von Fachleuten behandelt werden. Das folgende Video kann vielleicht einen Eindruck geben, was mit der Wahrnehmungsstörung gemeint ist.
Der Aufforderungscharakter der Toscani-Kampagne verpufft ohnehin, da ja nirgendwo eine Stelle genannt wird, die man finanziell, ehrenamtlich oder ideell unerstützen könnte. Wenn man auf nolita.it geht, kann man ein bisschen über die Kampagne diskutieren. Das ist aber auch schon alles, was an Einbringungs-Engagement zur Verfügung steht.
Klarer verständlich und einfacher zu erfüllen ist also die Aufforderung „Liebe die Anorexie“. Man sieht die Frau auf dem Plakat und denkt, na ja, wenn es ihr gefällt, soll sie doch so leben. Zunächst toleriert man das Bild, schließlich akzeptiert man es. Die Kampagne hat also normalisierenden und damit auch normierenden Charakter. Denn die Norm ist nicht mehr als ein ethischer und kultureller Konsens (=Mainstream). Genau so wird die Kampagne auch von Betroffenen verstanden. Sie bewundern die Schönheit Isabelle Caros, die nun noch mehr als bisher zum Anorexie-Superstar avanciert. Die Hunger-Mädchen wollen nun ihrer Bekanntheit und Sichtbarkeit gleichen. Die Kommentare im Blog der Abgebildeten zeigen das überdeutlich.
Und Oliviero Toscani seufzt, das habe er nicht gewollt. Dabei ist er aber wirklich heuchlerisch, denn ein Mensch mit seiner Erfahrung in der visuellen Kommunikation, muss sich von vorn herein über diesen Effekt klar sein. Wenn nicht, ist er einfach maßlos überschätzt und kann außer Provokation wirklich gar nichts!
Es geht eben nur um Aufmerksamkeit in der InfoTainment-Gesellschaft. „Any news is better than no news“. Nach diesem Credo lebt Toscani und wirbt die italienische Modefirma. Wie hieß sie doch gleich? Bitte schnell vergessen!