
Nach dem Besuch der Orest Inszenierung von Sebastian Baumgarten in der Komischen Oper habe ich im Internet ein paar Kritiken gesucht, weil es mich interessierte, wie dieses Stück aufgenommen wird. Wie vermutet triften die Kommentare weit auseinander. Die Traditionalisten, die ihren Georg Friedrich Händel am liebsten ganz pur als konzertante Aufführung hören oder als zur Entstehungszeit gemäßen barocken Kostüminszenierung sehen, finden diese konsequent moderne Interpretation erwartungsgemäß grauenvoll. Wie kann man den schönen Händel nur so kaputt machen? Die Modernisten rufen bravo, freuen sich über die Aktualisierung des Werks in Form, Bild und Ton und sehen sich mit der Forderung der Rekontextualisierung bestätigt. Ein ideologisierter Lagerkampf.
Nun werde ich mich nicht zum Opernkritiker aufschwingen, doch ich möchte meinen Empfindungen und Gedanken ein wenig Ausdruck verleihen.
Händels Werk Oreste wird formal als Pasticcio-Oper (Pastete) bezeichnet, was eine Zusammenstellung von Arien aus früheren Werken mit neuem Libretto darstellt. Bei den oft recht verworrenen Libretti anderer Opern kein schlechter Ansatz, um ein wenig Ordnung ins Geschehen zu bringen. Für Sebastian Baumgarten (Inszenierung) und Christopher Moulds (Musikalische Leitung) Grund genug, das Stück neu in der Gegenwart zu justieren. Als besonderer Einfall wird nicht nur das Orchester auf der Bühne postiert, sondern auch zwei als russische Armeeangehörige eingeführte Musiker mit Balaleika und Accordeon in die Bühnenhandlung einbezogen. Die formal strenge Barockmusik Händels, die mit relativ wenigen Motiven auskommt, die dann fleißig gelloopt werden, wird streckenweise über diese Minimalinstrumentierung etwas dekonstruiert. So tanzt Philoktet, der Offizier und miese Handlanger des triebhaft begehrenden Königs Thoas, auf die zu Soldatenliedern mutierten Händelschen Klänge. Ein Kunstgriff der sehr gut funktioniert. Auch die in der Barockoper unvermeidlichen (und bei rein konzertanten Aufführungen oft sehr anstrengenden) Koloraturen werden nicht zum verschnörkelten Selbstzweck vorgetragen. Einmal jault Orest in Koloraturen auf, als ihm eine Wunde am Arm mit Wodka desinfiziert wird, ein ander Mal springt Pylades mit wilden Koloratur-Karate-Schreien um den bezwungenen König herum. Das ist durchaus sinnstiftend und nicht entwürdigend.
Auf der Bühne wird viel mit Videoprojektionen gearbeitet, wobei die Bilder öfters live von den handelnden Personen erzeugt werden. Sowas kann schnell verwckelter, multimedialer Zierrat werden, nicht aber hier. Die filmischen Bilder erweitern den Blick im Nick Knattertonschen Sinn ;-). So sehen wir in die Gefängniszellen der eingekerkerten Pylades, Orest und Hermione oder werden wir über die wechselnden Hintergründe an neue Orte geführt.
Überhaupt agieren auf der Bühne immer singende Schauspieler und nie gestikulierende Sänger. So wird das griechisch, mythologische Libretto verständlich und die Verlagerung der Handlung auf die postkommunistische Halbinsel Krim deutlich. Das ist sehr wohltuend, da die Da-Capo-Arien inhaltlich ja nicht vom Fleck kommen und die Geschichte trotzdem szenisch weitergeführt wird.
Letztlich sind die vielen Bilder und Einflüsse natürlich nicht ganz zu entschlüsseln und darum auch nicht immer zwingend, aber wer will es schon mit einer Kunst zu tun haben, die man ganz und gar verstehen kann? Vielleicht ist die Oper deshalb nicht für Menschen geeignet, die am liebsten mit einem Auge auf der Partitur einer Inszenierung folgen. Gut so! (Wie man seit Wowi in Berlin rein logisch begründet.)