Sieh einer an: Ein grüner Spitzenpolitiker mit Migrationshintergrund kommt seinen Wählern langsam näher. Schon bevor Cem Özdemir überhaupt in Kreuzberg wohnt, kann er schon von Innen heraus auf Spiegel Online davon berichten.
Er sagt viele richtige Sachen und wagt ein paar Dinge anzusprechen, die man sich als Mensch ohne Migrationshintergrund doch lieber verkneift: Was ist mit der autonomen Rechtsauffassung in Teilen der türkischen Community Kreuzbergs? Wo sind sekulare Moral- und Handlungsinstanzen wie z.B. Polizei und Gewerkschaften, um auf die Mitglieder der ethnisch geschlossenen Gesellschaftsteile vor Übergriffen aus der eigenen Gruppe aufzupassen? Cem Özdemir nennt das ein „Tabuthema“, an das er ranngehen will. Ich würde sagen, das ist ein engagierter Einstieg in unser Kreuzberg. Respekt!
Auch das Schul- oder (besser allgemein gesprochen) Bildungsproblem des Bezirks kommt in seinem Artikel vor. Das kann ich nur bestätigen. In Kreuzberg fehlt es an Bildungseinrichtungen und einem Schulkonzept, das der großen Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund gerecht wird.
Dann wird Özdemir versöhnlich und sagt, dass in SO 36 Kinder noch Kinder sein dürften. Das ist bestimmt richtig. Man kann es erleben, wenn man Tanne B auf dem Lausitzer Platz versucht, einen Espresso zu bestellen. Bei Sonnenschein versammeln sich hier die Mütter, Väter oder andere Patchwork-Angehörige der Umgebung mit ihrem lärmenden Nachwuchs, der sehr den Eindruck macht, als bestände er aus Kindern.
Interessant ist allerdings, was die Antwort aller nicht ganz verarmter Eltern darauf ist, wenn sie für ihre Sprösslinge keine Plätze in der Waldorfschule in der Ritterstraße bekommen: Umzug nach Südwest-Berlin. Die besser gestellten Türken, Kurden, Araber verhalten sich übrigens genau gleich. Weshalb dankenswerterweise die Ausländerquote an Schulen in Steglitz und Dahlem ständig steigt und Menschen außerhalb Kreuzbergs eine Spur der realen Verhältnisse aufdrängen.
Ich bin sehr gespannt was bei Familie Özdemir passiert, wenn die Tocher sechs wird. (Aber wahrscheinlich schmückt sich die Waldorfschule gerne mit den Promieltern.)
Hier ein Zitat aus Özdemirs Artikel:
„In der Umgebung des Kottbusser Tors, wo frühere Generationen von Kommunalpolitikern städtebaulich so einiges in den märkischen Sand gesetzt haben, entscheidet sich der Erfolg oder Misserfolg der multikulturellen Gesellschaft. Ein Misserfolg wird es ganz sicher dann werden, wenn Mittelschichtsfamilien, darunter übrigens auch viele mit Migrationshintergrund, dem Stadtteil den Rücken kehren.
Die Verantwortung für die Integration bzw. Erziehung der Kinder und Jugendlichen schieben wir den Eltern, Lehrern und Schulen zu. Aber Integration findet auch in den Wohnzimmern der Mittelschicht statt, etwa wenn der eigene Sohn den türkischstämmigen Freund mit nach Hause bringt. Ich weiß, wovon ich rede.“
Wie Recht er hat. Hoffentlich vergisst er es nicht so bald.