Vor der letzten Berliner Abgeordnetenhauswahl hatte die CDU mit einer Kleinen Anfrage zur staatlichen Förderung zivilgesellschaftlicher Organisationen für Aufmerksamkeit gesorgt. Im Fokus standen dabei insbesondere NGOs, die sich aktiv gegen Rechtsextremismus und Desinformation engagieren – und laut Anfrage unter Verdacht standen, ein politisch einseitiges Meinungsklima zu begünstigen. Die Formulierungen deuteten auf ein tiefsitzendes Misstrauen gegenüber Teilen der engagierten Zivilgesellschaft hin – insbesondere, wenn diese zu Demonstrationen „gegen rechts“ aufrufen oder mit klarer Haltung auftreten.
Diese Anfrage wurde von vielen Beobachter*innen als ideologisch motivierter Versuch gewertet, kritische Stimmen als parteiisch und staatsnah zu delegitimieren. Die amtierende Bundesregierung verteidigte daraufhin die staatliche Förderung von NGOs.
Auch im aktuellen Koalitionsvertrag ist nicht ersichtlich, dass CDU und SPD sich zur Zusammenarbeit mit unabhängigen Faktenprüfungsstellen bekennen würden, um Desinformation wirksam entgegenzuwirken und die Qualität öffentlicher Debatten zu fördern.



Drei Textauszüge aus dem Koalitionsvertrag zum Thema Umgang mit Desinformation
Umso erstaunlicher ist es, dass ein Artikel in der Berliner Zeitung mit dem zugespitzten Titel „Wollen CDU und SPD ein Wahrheitsministerium?“ suggeriert, es gäbe konkrete Pläne für staatliche Wahrheitsdefinitionen. Grundlage der Kritik scheint eine vage Passage im Koalitionsvertrag zu sein, in der von Medienkompetenz und Strategien gegen Desinformation die Rede ist – ohne jedoch regulatorische Eingriffe oder institutionelle Maßnahmen zu benennen. Die dramatische Zuspitzung im Artikel steht somit in keinem Verhältnis zur eigentlichen Formulierung.

Hier wird ein Zerrbild erzeugt, das populistische Deutungen geradezu einlädt: Der demokratische Impuls, auf Desinformation zu reagieren, wird mit dem autoritären Reflex verwechselt, Kontrolle auszuüben.
Die Strategie hinter der Verdrehung
In den Kommentaren zum Artikel auf Social Media ist das deutlich zu sehen: Der Vorwurf der Zensur fällt hier auf fruchtbaren Boden. Viele Nutzer*innen sehen in jeder Korrektur ihrer Fehlinformationen einen Angriff auf ihre Meinungsfreiheit – und übersehen dabei, dass Fakten nicht Meinung sind, sondern die Grundlage, auf der Meinungen überhaupt erst miteinander ins Gespräch kommen können.



Drei Screenshots von Kommentaren auf Facebook unter dem Artikel der Berliner Zeitung.
Die Redaktion der Berliner Zeitung ist in den vergangenen Monaten mehrfach mit Artikeln aufgefallen, die sich durch eine demonstrativ kritische Haltung gegenüber demokratischen Institutionen hervortun – besonders dort, wo es um Wissenschaft, öffentliche Medien oder staatliche Maßnahmen geht. Diese Haltung erscheint zunächst als berechtigter Journalismus im Sinne der Gewaltenteilung. Doch wo Kritik sich gegen die Existenz von überprüfbaren Fakten selbst richtet, wird sie zur Strategie der Gleichmacherei: Fakten und Meinungen sollen als gleichwertig erscheinen, weil Gerechtigkeit angeblich darin bestehe, allen Stimmen denselben Raum zu geben – auch denen, die nachweislich lügen.
Das Ergebnis ist nicht mehr Kritik, sondern Zersetzung von Vertrauen. Nicht in einzelne politische Maßnahmen – sondern in die Idee, dass Wahrheit und Irrtum voneinander unterscheidbar sind.
Ethische Langsamkeit – und warum wir sie brauchen
In dieser Lage hilft kein autoritärer Reflex – aber auch kein falsch verstandener Liberalismus, der jede Lüge als „alternative Sichtweise“ duldet. Es braucht klare Worte:
„Wer im Namen der Freiheit lügt, bekämpft die Wahrheit – nicht die Macht.“
Denn eine Demokratie lebt nicht nur von Meinung – sie lebt auch vom Vertrauen, dass Fakten nicht verhandelbar sind.
Ich unterstütze CORRECTIV. Und auch andere Recherche-Netzwerke wie netzwerk recherche, der ARD-Faktenfinder, oder der Rechercheverbund NDR, WDR und Süddeutsche Zeitung verdienen Respekt und Rückhalt. Beim ARD-Faktenfinder ist übrigens gerade ein Artikel zum gleichen Thema erschienen!
Die Arbeit dieser Recherche-Teams ist langsamer als die populistische Empörungsmaschine, weil sie auf etwas zielt, das viele vergessen haben: Wirklichkeit lässt sich nicht behaupten – man muss sie nach und nach herausarbeiten. Dabei geht es nicht um unfehlbare Wahrheiten, sondern um ethisches Handeln: Sorgfalt, Selbstkorrektur, transparente Quellenarbeit, und der Mut, auch eigene Positionen infrage zu stellen. Diese Haltung ist kein Meinungskostüm, sondern das Rückgrat einer demokratischen Öffentlichkeit.
Quellen:
- Koalitionsvertrag für die 21. Legislaturperiode des Deutschen Bundestags zwischen CDU, CSU und SPD „Verantwortung für Deutschland“
- Kleine Anfrage der CDU/CSU im Bundestag vom 22.11.2023: „Politische Neutralität staatlich geförderter Organisationen“ PDF zur Drucksache 20/15035
- Offener Brief von über 1.700 Wissenschaftler*innen, die die Anfrage als Angriff auf die Zivilgesellschaft kritisieren: Tagesspiegel-Artikel, 16.12.2023