Nach den Tagesthemen kommt am Sonnabend spät, aber so sicher wie das Amen in der Kirche, das „Wort zum Sonntag“. Ein Sendeplatz für göttliche Spekulationen, die gelegentlich überraschen – oder irritieren. Am 18. Januar 2025 war es wieder soweit: Die Theologin Johanna Vering sprach über einen Satz aus der Bibel, der, wie sie erklärte, sie „umgehauen“ habe: „Im Krieg gibt es keinen Urlaub.“ Der Satz, so ihre Interpretation, verdeutliche, dass Konflikte und Leid keine Pause kennen und dass man trotzdem das Leben genießen dürfe – so, wie es ein gewisser Stefan tat, von dem sie in ihrer Predigt erzählte: todgeweiht und entschlossen, seine letzten Tage hedonistisch zu genießen.
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Mich hat der Satz auch sofort aus dem Dösen vor der Klotze gerissen und beschäftigt – allerdings aus einem ganz anderen Grund. Das Wort „Urlaub“ in einer angeblich Jahrtausende alten Textstelle? Das moderne Konzept von Urlaub gab es zur Entstehungszeit der Bibel schlichtweg nicht. Also wollte ich – Agnostiker, der ich bin – wissen, was wirklich im Originaltext steht. Doch während meiner Nachforschung fiel mir auf, dass nicht nur das Wort „Urlaub“ eine eigenwillige Modernisierung ist. Auch die generelle Aussage dieser Textstelle in Text Kohelet wirken stark interpretiert. Kann uns der Bibelvers nach der Ableitung von Frau Vering wirklich sagen: „Ihr dürft das Leben genießen und darin Hoffnung sehen, auch wenn andere – in der Ukraine, in Gaza oder anderswo – im Leid versinken“? Ist das eine angemessene Interpretation? Ich glaube nicht.
Die Antwort fand ich, unterstützt durch eine KI-gestützte Recherche, im Originaltext.
Der Originaltext: Was könnte da in der Bibel eigentlich gemeint sein?
Der Vers, um den es geht, stammt aus Kohelet (Prediger) 8,8. Dank Google und ChatGPT/Gemini haben wir heute schnellen Zugriff auf den Originaltext auf Hebräisch, was es ermöglicht, eine eigene Interpretation zu wagen. Hier ist der Originaltext (nur weil Hebräisch so schön aussieht ;-):
אֵין אָדָם שַׁלִּיט בָּרוּחַ לִכְלוֹא אֶת־הָרוּחַ וְאֵין שִׁלְטוֹן בְּיוֹם הַמָּוֶת וְאֵין מִשְׁלַחַת בַּמִּלְחָמָה וְלֹא־יַמְלֵט רֶשַׁע אֶת־בְּעָלָיו׃
Die Software sagt, die wörtliche Übersetzung laute:
„Kein Mensch hat Macht über den Wind, um den Wind zurückzuhalten. Kein Mensch hat Macht über den Tag des Todes. Es gibt keine Entlassung im Krieg, und Bosheit wird den Boshaften nicht retten.“
Das hebräische Wort „מִשְׁלַחַת (mishlachat)“ bedeutet „Entlassung“ oder „Freigabe“, und „בַּמִּלְחָמָה (bammilchama)“ wird mit „im Krieg“ übersetzt. Doch das Wort „Krieg“ steht hier nicht unbedingt für militärische Konflikte. In der Bibel wird „milchama“ oft metaphorisch verwendet, um Chaos, Zerstörung oder Kämpfe zu beschreiben. Es geht also vermutlich weniger um Krieg im engeren Sinne, sondern um die Ohnmacht des Menschen gegenüber Kräften, die ihn übersteigen. Das jedenfalls ist der Sinnzusammenhang des gesamten Verses.
Eine andere Interpretation
Johanna Vering deutete den Vers in ihrer TV-Predigt als Einladung, trotz aller Kämpfe und Belastungen in den schönen und genussvollen Momenten des Lebens Hoffnung zu finden. Aber der Originaltext spricht doch eher eine andere Sprache. Hier geht es vielmehr um die Grenzen menschlicher Macht und den Misserfolg menschlicher Versuche, eine höhere (göttliche) Ordnung zu manipulieren. Eine geeignetere Interpretation wäre:
„Das menschliche Streben, durch Krieg oder Bosheit die Welt zu beeinflussen oder zu kontrollieren, ist zum Scheitern verurteilt. Solche Dinge liegen nicht in der Macht des Menschen.“
In dieser Sichtweise ist der Krieg nicht nur ein Symbol für Zerstörung, sondern auch für die menschliche Selbstüberschätzung und Hochmut, göttliche oder natürliche Gesetze aus den Angeln heben zu wollen. Der Vers mahnt: Lasst es sein – Krieg, Zorn und Bosheit werden euch nichts bringen.
Bibelstelle oder Zurechtbiegen?
Das Problem mit modernen Übersetzungen wie „Urlaub im Krieg“ ist, dass sie versuchen, den Text greifbar und zeitgemäß zu machen. Doch dabei wird der Sinn oft verfremdet oder ins Gegenteil verkehrt. Wenn Prediger*innen solche Stellen dann dazu nutzen, um aktuelle moralische oder ethische Botschaften zu vermitteln, wird es bedenklich. Die Bibel, wie alt, widersprüchlich und mehrfach in späteren Jahrhunderten überarbeitet sie auch sein mag, verdient es, in ihrem historischen und sprachlichen Kontext verstanden zu werden. Nicht als Werkzeug, um ein Publikum in Deutschland von moralischen Dilemmata zu entlasten.
Kohelet 8,8 erinnert uns nicht daran, dass wir trotz allem genießen dürfen. Es sagt uns, dass menschliche Macht begrenzt ist und wir mit Hybris und Bosheit nichts erreichen. Dieser Vers lädt nicht zur Entspannung ein – er mahnt zur Reflexion über unsere Grenzen. Eine Botschaft, die in unserer heutigen Welt, in der Krieg, Leid und menschliche Hybris allgegenwärtig sind, vielleicht mehr Gewicht hätte als zu sagen, „ihr dürft euch entspannen“.