
„Lettre International“ ist eine Zeitschrift für Menschen, die keine Probleme mit Textverständnis haben. Im immer weiter um sich greifenden Trend zur „Magazinisierung“ (sprich Inhalt abspecken, lifestyliger werden und mehr bunte Bilder mit Shopping-Tipps) ist das Heft, das sich „Europas Kulturzeitung“ nennt, herrlich unzeitgemäß. Unter 10.000 Zeichen pro Artikel geht hier selten was. Doch was gibt es da wunderbare Berichte und Essays zu entdecken? In der neuen Ausgabe kann man zum Beispiel einen Text lesen von der Nobelpreisträgerin Nadine Gordimer über die literarische Zeugenschaft, oder vom polnischen Reporter Ryszard Kapuscinski über die Orte seiner Kindheit. Im Themenschwerpunkt „Das Potential der Städte“ schreibt der Künstler Jochen Gerz über die Idee der „Kulturstadt“, also der modernen Stadt als Handlungsort für Kultur. Und das ist natürlich genau das Thema für Berlin-ist.de! Jochen Gerz sagt, dass unsere Aufmerksamkeit viel zu stark auf die „Hardware“ fokussiert liegt, also auf Gebäuden, den Kunstwerken, den Plätzen und den Räumen. Seiner Ansicht nach, muss Kultur heute als „Software“ gedacht und entwickelt werden, also als Ideen, Programme, Bewegungen, Interaktionen usw. Wir stehen „vor dem Ende der Arbeit im traditionellen Sinn“ und darum kann Kultur nicht länger das sein, womit sich Menschen nach der täglichen oder wöchentlichen Arbeitszeit beschäftigen. Kultur muss immer stärker einen breitenwirksamen Sinn vermitteln. Warum leben wir in der Stadt, wo schon jetzt große Teile der Bevölkerung nichts mehr zu tun haben? Selbst konservative Unternehmer und Politiker denken laut über eine Grundrente für jeden ohne Gegenleistung nach. Wozu soll das Leben dann noch gut sein? Kultur muss diese Fragen beantworten und sicherlich nicht, indem sich Kultur in Protzbauten manifestiert, Architektur nur Erfüllungsgehilfe von kommerziellen Interessen ist, oder Kunst in Museen (siehe neue Diskussion zur Berliner Kunsthalle) verfrachtet wird.
Jochen Gerz schreibt: „In [vielen Ländern] werden die Begriffe ‚Kreativwirtschaft‘ und ‚Kulturgesellschaft‘ derzeit diskutiert. Dabei entwickelt sich ‚Kultur‘ mehr und mehr zu einer umfassenden Metapher für gesellschaftliches Programmieren, und wir können in der Tat auch den öffentlichen Raum als Notwendigkeit und Chance für Programmierungen begreifen. Das ist eine Vorstellung der Kulturstadt, die Raum lässt und schafft für den Beitrag von Autoren aus allen Teilen der Bevölkerung und für neue Mischformen aus Spuren, Erfahrungsberichten, Kritiken, Ideen und Beweisen.“
Selten habe ich einen so guten Artikel zu diesem Thema gelesen. Es gibt also doch noch Intellektuelle unter Deutschlands Künstlern, die sich in verständlichem Deutsch ausdrücken können. Danke Jocher Gerz! Danke Lettre International!