Eine Überraschung im Eiszeitkino: Eigentlich kamen wir um „Der letzte König von Schottland“ zu sehen, doch die im Internet veröffentlichte Anfangszeit stimmte mal wieder nicht mit der tatsächlich viel späteren überein. Statt dessen fing gerade eine Dokumentation Namens „Shoah und Pin-Ups“ über den NO!art-Künstler Boris Lurie an. „NO!art“ kam mir irgendwie bekannt vor: Damals an der HdK kursierten so kleine No-Art-Aufkleber, mit denen irgendjemand seinen Protest gegen ausgestellte Werke zum Ausdruck brachte und ich hörte von der NewYorker Anti-Pop-Art-Avantgarde Gruppe gleichen Namens, von der ich aber nicht viel wusste. Der Name „Boris Lurie“ sagte mir nichts. … Egal, wenn man schon mal da ist Beim Eintritt in den Kinosaal, hatte der Film gerade begonnen und (für mich) überraschender Weise war der Raum fast ganz gefüllt. Die Dokumentation wurde auf einfachem DV-Video Material gedreht, sehr low-tech-mäßig, ohne zusätzliches Licht und mit nicht immer ganz perfektem Ton, was aber besonders durch die winzigen, verwinkelten Räumlichkeiten des Künstlers bedingt war, in denen fast der ganze Film aufgezeichnet wurde.
Boris Lurie durchlebte als Jugendlicher Ghetto und KZ, verlor dabei aber den ganzen weiblichen Teil der Familie (Mutter, Schwester, Oma) und ging gleich nach der Befreiung 1945 nach New York. Die Erlebnisse in den Lagern prägten seine Kunst von Anfang an, doch er nahm nie die vermutbare Opferrolle eines Überlebenden ein. Seine Werke sind bewusst unästhetisch, unschön, grotesk und er brachte Anfang der 50er Jahre Dinge zusammen, mit denen er sämtliche Tabus brach. Er collagierte Aufnahmen aus den deutschen KZs, verhungerte Menschen, Leichenberge, verzweifelte Blicke mit Soft-Porno Bildchen, die er aus Magazinen ausschnitt. Bis heute bringt er die Extreme unserer „perversen“ Gesellschaft zusammen und spannt einen für ihn offensichtlichen Bogen von der Shoah bis zum Irakkrieg. Seine Kunst ist eben das deutliche NO!-Sagen: NO! zum normierten Wertekanon, der es verbietet über vieles zu sprechen. NO! zu den Gesetzen des Kunstmarktes. NO! zur erwarteten Opfermentalität.
Diese Haltung konnte und kann er sich „leisten“, weil er nach dem Tod seines Vaters, der ebenfalls die Nazizeit überlebte und anschließend in Deutschland erfolgreiche Geschäfte mit Thyssen und anderen machte, dachte, er müsse nun selbst wirtschaftlich sein Leben übernehmen. Er tat dies bemerkenswert geschickt durch Investment in Immobilien und Wertpapiere, die ihm einen Wohlstand einbrachten, den er nicht mal im Ansatz in einen Lebensstil umsetzte. Der Film zeigt eindrücklich, wie Lurie trotz finanziell gesichertem Hintergrund äußerlich völlig heruntergekommen haust. Sein Atelier und seine Wohnung sind geradezu erbärmliche Rumpelkammern, die zum Bersten mit halb kaputten Möbeln und vor sich hin rottenden Materialien gefüllt sind. Er kauft regelmäßig in einem kleinen Geschäft osteuropäische Wurstwaren und packt sie in einen überdimensionierten und überquellenden Kühlschrank, bei dem man hofft, die Türen würden sich nie wieder öffnen.
Allein seine Kunst ist ihm wichtig. So wichtig, dass er in den letzten Jahren sogar Werke wieder zurückkaufte, die über die Jahrzehnten bei anderen Menschen gelandet sind. Im Kontrast zu dieser Archivierungstätigkeit steht dann aber die fahrlässige Einlagerung der Bilder in einem feuchten Keller, in dem früher oder später alles Stockflecken bekommen muss. Diese Verderblichkeit seiner Arbeit scheint Lurie aber durchaus bewusst voranzutreiben. Vermutlich ist es seine letzte Geste der NO!art-Haltung, denn er ist inzwischen gesundheitlich stark angeschlagen, nicht mehr fähig, sich um seine Kunst zu kümmern.
Boris Lurie ist ein widersprüchlicher Mann und er betrieb immer eine widersprüchliche Kunst, die erst in den letzten Jahren wieder entdeckt wird. Heute (für ihn zu spät) gibt es ein Interesse an seinem Lebenswerk, was man im Film (eine Museumsleiterin mühte sich um eine Ausstellung mit ihm), am Film (sonst wäre er nicht gedreht worden) und am Publikum (fast die gesamte Kreuzberger Kunstszene war anwesend) sehen konnte.
Nach dem Film gab es eine angeregte Diskussion mit den MacherInnen der Dokumentation: Reinhild Dettmer-Finke (Buch, Regie), Matthias Reichelt (Idee), Rainer Hoffmann (Bildgestaltung), Mike Schlömer (Schnitt, Ton). Das Video zeigt daraus ein paar Ausschnitte.