
Ich begegne dem SCHMERZ in Form einer Ausstellung im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwartskunst in Zusammenarbeit mit dem Medizinhistorischen Museum der Charité. In so eine Ausstellung gehen viele im Bewusstsein, selbst Betroffene zu sein, denn wer hat nicht schonmal unter einem Hexenschuss, zersetzenden Bauch- oder Kopfschmerzen gelitten? So eröffnet sich also für fast alle ein ganz persönlicher Zugang zum Thema. Genau da, bei der individuellen Erfahrung, werden die Besucher „abgeholt“, wie man in Marketingagenturen sagt. Durch die Zusammenarbeit mit der Charité konnten Patientenberichte in Form von Schmerzzeichnungen ausgestellt werden. In mit Umrissen vorgezeichnete, menschliche Figuren mussten die Schmerzpatienten ihren Schmerz möglichst genau lokalisieren, ihm eine Form geben und ihn mit einigen Worten beschreiben. Diese Blätter sind informativ, wenn auch etwas beliebig, weil man auf die Schmerzursache oder die Haltung des Menschen zu seinem Schmerz natürlich keine Rückschlüsse ziehen kann. Es zeigt sich nur (wenig überraschend), dass es viele Formen des Schmerzens gibt.
Interessanter sind da doch die künstlerischen Bearbeitungen der Schmerzerfahrung, die der möglichen Widersprüchlichkeit des Phänomens auf der Spur sind. „Obwohl [Schmerz] meist […] unerträglich ist, gibt es auch Bereiche, in denen er gesucht oder zumindest in Kauf genommen wird. Denn der Schmerz vermittelt ein Gefühl wie kein anderes Gefühl und kann Medium für neue Erfahrungen sein.“ (aus dem Ausstellungs-Flyer). Auf diesem Pfad geht Friedrich Nitsch, der aber in dieser Schau nicht gezeigt wird (war ja nun auch zur Genüge in Berlin vertreten). Eine der beeindruckendsten Arbeiten ist Bill Violas „Observance“, eine Video-Installation von ultimativer Bildqualität und -präsenz, die in gestochener Schärfe und durch den gekonnten Einsatz von Farbe und Licht an Gemälde alter Meister erinnert. Man sieht, vermutlich an einem Sarg (nicht im Bild), vorbei defilierende Menschen, die von Verlustschmerz gegenüber einem geliebten Menschen gezeichnet sind. Durch die extreme Zeitlupe (aufgenommen mit einer Hochgeschwindigkeitskamera) wird man geradezu zur emphatischen Anteilnahme gezwungen. Allein dieses Video-Bild lohnt den Besuch der Ausstellung!
In vielen Ausformungen geht die Ausstellung auf den Leidensweg Christi ein. Die Religion, deren Gläubige sich im Zeichen eines Folterinstruments treffen, baut insbesondere auf die Schmerzerfahrung des menschgewordenen Gottes zur Sinnstiftung. Diese Passionsgeschichte mit der sich Gott quasi in uns Menschen versetzt, ist Anknüpfungspunkt für viele Arbeiten, wie z.B. den „Schmerzensweg“ gebildet von 12 piktografischen Plakaten (Spritze, Rasierklinge, Hammer,etc.), der in adretten Wall-Werbesäulen vom Hamburger Bahnhof zum Medizinhistorischen Museum führt, oder dem Puppen-Stopptrickfilm von Nathalie Djurberg „Just because you are suffering doesn’t make you Jesus“. Pflichtgemäß werden Kreuzigungsbilder von Albrecht Dürer bis Francis Bacon gezeigt und man kann sich in Bachs musikalische Passion zum „süßen Schmerz“ einhören. Ein Experimentierkreuz lädt dazu ein, über die wiederholten ärztlichen Versuche nachzulesen, mit denen wissenschaftlich der Leidensweg Gottes Sohns untersucht wurde, um dessen vermutliche Todesursache festzustellen. Eine christliche Votivsammlung bildet den wächsernen Übergang der „Inkarnierung“ vom dargestellten Organ zum tatsächlichen. Anscheinend darf der Blick ins fleischliche Innere des Menschen heute in der Nähe der Kunst nicht fehlen. Von den Präparaten geht es zu den medizinischen Werkzeugen der Durchdringung vom Äußeren zum Inneren. Auf diesem Sektor hat letzthin die Ausstellung „Into me – Out of me“ im KW ganze Arbeit geleistet.
Am Ende der Ausstellung wartet noch ein kleines Zeichentrick-Meisterwerk auf die Besucher. Der Film „History of the Man Complaint“ von William Kentridge überzeichnet sich im formalen und nicht inhaltlichen Sinne ständig selbst. Mit Kohle und Kreide wird die filmische Entwicklung (Bild für Bild) eines Mannes immer wieder auf das gleiche Bild gezeichnet, was zu einer unglaublichen raum-zeitlichen Tiefe führt. Das Bild leidet und verändert sich selbst genau wie die Geschichte des vom Schmerz gezeichneten Mannes.
„SCHMERZ versteht sich als Experimentierfeld für neue visuelle und inhaltliche Impulse aus den unterschiedlichen Bild- und Dingwelten und stellt die traditionell an die beiden Museen geknüpften Erwartungen und Sehgewohnheiten zur Disposition.“ So fassen die Ausstellungsmacher ihren Anspruch an die Schau zusammenfassen. Die Ausstellung bricht tatsächlich mit der gewohnten puren Kunstrezeption, doch von der Idee eines Experimentierfeldes ist, im von mir besuchten Hamburger Bahnhof (in der Charité war ich nicht) nicht viel zu merken. Hier wird allenfalls experimentiert, ob es gelingt eine inhaltliche Klammer von künstlerischen und naturwissenschaftlichen Ansätzen zusammenzubringen. Ich finde es gelingt nicht immer, denn die medizinischen Erkenntnisse werden auf einem sehr flachen populärwissenschaftliches Niveau gehalten, das sich leider fast nur als eine Visualisierung des Abstrusen oder des Grotesken darstellt, wodurch auch die nebenstehende Kunst leider teils an Tiefe verliert. Francis Bacons wunderbaren Triptychon „Crucifixion“ hinter ein Regal mit historischen, Organ-Präparaten zu schieben, führt einfach auf die falsche Fährte. Die Fixierung auf die Leidensgeschichte Jesu, die geradezu als Ur-Schmerzerfahrung monumentalisiert wird, empfand ich nach dem fünften Raum als nachgerade lästig und ein Video, wie „Narben“ von Valeska Grisebach erscheint geradezu erlösend, in dem Menschen über ihre Verwundungen und Vernarbungen sprechen und die Sinnstiftung durch die Schmerzerfahrung im ganz weltlichen Kontext beleuchtet werden. Diese künstlerischen Werke ragen eindrücklich zwischen Vitrinen mit (langweiligen) Operationsbestecken heraus.
Trotz der nicht ganz überzeugenden Selbsterfahrung ist die Ausstellung wegen solcher Arbeiten den Besuch wert!
Bis 5. August 2007 geöffnet.
Links zu weiteren Reviews der Ausstellung:
Oh weh! (art-in-berlin.net)
Artikel in der taz