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Archiv der Kategorie ‘Theater‘

8. Mai 2017 21:40:33

… Herbert is der Beste

In Berlin ist jetzt so gut wie alles weg von Herbert, abgespielt, abgesetzt, ausgelaufen, es gibt nur noch ein paar mal „Pfusch“ an der Volksbühne (ganz ganz schwer, dafür Karten zu kriegen), ein einziges Mal noch die „Apokalypse“ und weiterhin im Repertoire der Komischen Oper seine Inszenierung von Mozarts „Don Giovanni“. Er wird dann an der Schaubühne wieder auftauchen, Herbert Fritsch, und jetzt haben sie ihm zum Abschied, zum Umzug und zum Dank den Berliner Theaterpreis gegeben.

Seine Schauspieler – Sebastian Blomberg, Corinna Harfouch, Wolfram Koch, Josef Ostendorf, Bettina Stucky, ChrisTine Urspruch und zwei Hände voll weiterer Fritschler, Fritschisten, Fritschovskis – gaben ihr Bestes in Victoria Behrs Wahnkostümen auf der Bühne des Festspielhauses gestern mittag. Das steckte alle an, Castorf – hier seine Laudatio – , Lederer, Oberender, alle lümmelten sich irgendwie angefixt durch ihre Reden; über allem schwebte der Geist des Vergänglichen, das Ende einer Ära, und brillant performten die Fritschianer die Begründung der Preisjury. Besser geht Preisverleihung nicht.

 

 

13. November 2016 21:38:50

…gottseidank: Auch der Teufel nicht.

mephisto_wilson_2016

Vielleicht war es die erste Einlassung zum Thema auf einer Berliner Bühne, vielleicht nicht, als der Schauspieler Christopher Nell in seiner Rolle als Mephistopheles in Robert Wilsons Faust-Inszenierung am Berliner Ensemble am Sonntag in der Studierzimmer-Szene („Das also war des Pudels Kern!“) den Namen des frischgewählten US-Präsidenten unterbrachte: „Das Etwas, diese plumpe Welt / So viel als ich schon unternommen. / Ich wusste nicht ihr beizukommen / Mit Wellen, Stürmen, Schütteln, Brand – / Geruhig bleibt am Ende Meer und Land!“ Aus Brand wurde Trump, der Reim war dahin, aber eines klar – noch nicht einmal wenn der Teufel sich seiner annimmt, wird er der Welt beikommen. Das ist tröstlich. Ob am Ende Meer und Land ruhig bleiben, hängt auch von anderen ab: Du musst dich um die Demokratie kümmern, sonst wird sie dich verlassen.

Im übrigen war es eine Freude, Robert Wilson wieder dabei zuzuschauen, wie er mit seinem Konzept der vollen Gleichwertigkeit aller Elemente – Licht, Ton, Text, Bühnenbild, Kostüme, Maske, Musik – immer erneut den Kampf aufnimmt gegen die gängige diktatorische Dominanz des Textes auf den Bühnen. Und auch mit diesem Faust I + II trägt er einen gloriosen Sieg davon. Möglicherweise ist diese stark durchironisierte Version jedoch der Abgesang einer Epoche; es scheint nämlich ernst zu werden, die ironische Haltung der vergangenen dreißig Jahre wird da nicht mehr die richtige sein.

 

 

21. Juni 2016 15:56:08

… überspitzt: Not und Spiele – Flüchtlinge fressen

Das Zentrum für Politische Schönheit inszeniert gesellschaftliche Skandale als herausfordernde Show-Events, die bewusst polarisierend und umstritten sind. Wie immer man das moralisch finden mag, die Aktionen bringen auf jeden Fall brennende Themen in den Diskurs. Als neuestes „Projekt“ haben sie sich einen Missstand vorgenommen, bei dem Recht nicht im Sinne der Gleichheit aller Menschen gilt, sondern explizit zur Unterscheidung von Menschen in welche mit und andere ohne Rechte. Es geht darum, warum es Menschen, die laut Flüchtlingskonvention eindeutig als Kriegsflüchtlinge bei uns und in allen anderen EU Ländern Asyl bekommen müssen, nicht direkt nach Deutschland (oder in ein anderes EU-Land) eingeflogen werden können. Warum können solche Flüchtlinge nicht einfach in der Izmir einen regulären Flug nach Stuttgart buchen und herfliegen – zu ganz normalen Preisen, ohne Schlepper bezahlen zu müssen, und ohne ihr Leben auf einer ungewissen Flucht erneut zu riskieren?

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Analogie zum politischen Handeln

Bei der Aktion „Flüchtlinge fressen – Not und Spiele“ wird daraus eine Art Mitmach-Reality-Container-Show, bei der die vermeintlichen Protagonisten wie Stars aufgebaut werden, in deren Leben man als Mitspielende hineinschlüpfen kann. Auf allen Ebenen können Menschen Teil der Aktion werden:
Ganz oben als Imperator – „Jetzt können Sie Thomas de Maizière sein“ – so werden Unterstützende angeworben, die in seine Rolle schlüpfen sollen, um 100 Flüchtende auszuwählen, die eingeflogen werden könnten. Die Anzahl begründet sich darin, dass der Innenminister im April dieses Jahres Deutschland nicht in der Lage sah, mehr als 100 Menschen pro Monat aufzunehmen.
Ganz unten als Schlachtvieh – „Wir suchen Flüchtlinge, die […] bereit sind, sich öffentlich fressen zu lassen“ – so werden Menschen mit „Flüchtlingshintergrund“ gesucht, die „ihr Leben für eine größere Sache opfern“. In Berlin ist zu diesem Zweck eine Arena aufgebaut, in der vier libysche Tiger darauf warten mit Menschenfleisch gefüttert zu werden. Die Tiere sollen „Gastgeschenke des großmütigen türkischen Sultans“ sein, die dieser „zur Feier des EU-Türkei-Deals“ nach Berlin bringen ließ.

Der Bundespräsident Joachim Gauck wird als der mögliche Retter aufgebaut, der Messias-gleich gemeinsam mit dem Papst die unmenschliche Abweisepraxis mit einer einzigen Rede am 24. Juni 2016 (siehe Tagesordnung der 180. Sitzung des Deutschen Bundestages – letzter Punkt) beenden könnte. „Wird er die Flüchtlinge vor den Tigern retten?“ Für das erwartete Ausbleiben der Rettungstat, ist nun alles hergerichtet. Das Blut wird fließen.

Der Aufbau von „Not und Spiele“ ist als Analogie zum politischen Handeln gedacht, das von den Medien geradezu lüstern begleitet wird, doch die Vergleiche hinken gewaltig. Natürlich ist der EU-Türkei-Deal ein Skandal, denn spätestens die praktische Realität der Verfahren zeigt deutlich auf, dass der Deal kein Pakt für Menschenrechte ist, sondern ein Pakt zur Entrechtung von Menschen. Das Ziel der Politiker*innen, die diesen Deal ausgehandelt haben, ist es, Menschen aus der EU rauszuhalten und diese aktive Ausgrenzung den Bürger*innen im eigenen Land als Erfolg „gegen den Flüchtlingsstrom“ zu verkaufen. Besonders die konservativen Parteien (in Deutschland) haben fürchterliche Angst, dass „das Volk“ (tatsächlich ist es nur eine Minderheit von nationalistisch eingestellten Dummköpfen) sich gegen die Regierung erheben würde. Der Deal ist ein Versuch, dem dunkel-deutschen „Merkel muss weg“-Geschrei ein „wir haben verstanden“-Slogan entgegenzustellen und das ist zweifellos ein zutiefst unmenschlicher – vielleicht sogar unpolitischer – Schachzug, der sicher nicht zum Gewinn der Partie führt. Ja, auch durch den EU-Türkei-Deal wurde alles so hergerichtet, dass jetzt wieder das Blut fließen wird.

Eventisierung menschenverachtender Politik

Dennoch: Bedarf es wirklich dieser Inszenierung um das Thema „medial heiß“ zu machen? Werden mit der Überhöhung der Politik in die Sphäre des reinen Show-Biz nicht Rollen-Stereotypen weiter zementiert und wird durch den offensichtlichen Zynismus der Aktion der politisch überformte Zynismus nicht eher verdeckt als entblößt? Die Aktion ist in ihrer krassen Erscheinungsform so widerlich und abstoßend, dass viele Menschen sich eher vor dem Politischen weiter abwenden, statt sich mit der Thematik zu befassen. Niemand will, dass Tiger eingesperrt sind. Keine*r will einzelne Menschen auf einer Kandidatenliste bevorzugen und andere abweisen. Wer will dabei zusehen, wie sich Menschen opfern und gefressen werden? Theaterpublikum vielleicht?
Ich denke, die Aktion soll den Menschen zeigen, dass Politik und Medien symbolischen Aktivismus vortäuschen, doch ich werde ich das Gefühl nicht los, dass die Aktion selbst eine Vortäuschung von politischem Aktivismus ist. Die Realpolitik bleibt „leider“ nicht im Symbolischen, die Aktion aber ganz bestimmt.

Die rechtliche Grundlage ist Unrecht

Ich habe den Eindruck, auch die Macher*innen des Polit-Event-Designs sind von ihrer Inszenierung selbst nicht ganz überzeugt, denn sie ziehen in ihre Aktion dann doch noch eine Ebene ein, die ganz ohne Überhöhung auskommt und genau hier treffen sie auch das Niveau der sachlichen Auseinandersetzung: Die rechtliche Grundlage, die verhindert, dass Flüchtlinge mit einem normalen Linienflug nach Europa kommen können, ist der eigentliche Skandal aber der Zusammenhang mit dem EU-Türkei-Deal ist leider sehr konstruiert.

Paragraph-63-Auszug

Der Passus im deutschen „Aufenthaltsgesetz“ §63 ist die Umsetzung einer EU-Richtlinie, die Europa-weit die Flüchtlingsentrechtung in geltendes Recht verwandelt. Die Staaten verschieben mit dieser Richtlinie (2001/51/EU) die Verantwortung von den Regierungen auf die Fluggesellschaften. Faktisch wird die Einzelfallprüfung, ob es sich bei den Einreisenden um geschützte Flüchtlinge handelt oder eventuell doch um Menschen, die versuchen illegal einzureisen, auf die Fluggesellschaft abgewälzt. Wenn eine Fluggesellschaft eine Person nach Europa bringt, bei der sich später herausstellt, dass sie keinen Anspruch auf Asyl hatte (durch Ablehnung des Antrags), muss sie „die entstandenen Kosten tragen“. Die Fluggesellschaft muss für alles aufkommen – Unterkunft, Verwaltung, Gerichts und Reisekosten.
Mit der dargestellten Regelung im deutschen Aufenthaltsgesetz werden die Fluggesellschaften zusätzlich bestraft, in dem es ein „Zwangsgeld für die Beförderungsunternehmen“ vorsieht. Durchschnittlich ca. 2000 Euro müssen diese bezahlen, wenn der Asylantrag einer zuvor transportieren Person abgelehnt wird. In der Folge nehmen alle Fluggesellschaften keine Flüchtlinge mit an Board. Der Berliner Ratschlag für Demokratie hat zur Aufklärung über das Thema „Flugverbot für Flüchtlinge“ von studio adhoc ein Video produzieren lassen.

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Protest könnte auch Lösungen aufzeigen

Will die EU ein Verbund von Gesellschaften sein, die sich auf die ratifizierten Werte der Menschlichkeit gründet, die z.B. in der Flüchtlingskonvention festgehalten sind, dann muss die EU-Richtlinie überarbeitet werden. Wir alle brauchen eine praktische Regelung, damit Menschen sicher und direkt aus den Krisengebieten, oder aus unmittelbar angrenzenden Regionen, ausgeflogen werden können. Die Einreiseländer müssen in Eilverfahren vor dem Transport und Vorort die Beförderung der Menschen als Flüchtlingsbeförderung einstufen, so dass nicht länger den Fluggesellschaften das finanzielle Risiko aufgebürdet wird. Es geht tatsächlich nur um einen Stempel im Pass, der den Flüchtenden den Weg eröffnen würde.
Die Kosten, die Flüchtende derzeit aufbringen müssen und das Risiko, dem sie sich aussetzen müssen, um sich in Sicherheit zu bringen, stehen in keinem Verhältnis zu den Kosten, die eine menschenwürdige Lösung verursachen würde. Außerdem kann mit einer Neuregelung dem illegalen Geschäft der Schlepperorganisationen endlich nachhaltig etwas entgegengesetzt werden. Dem Geschäftsmodell wäre der Boden entzogen und den Menschen auf der Flucht blieben viele zusätzliche Traumata und Verluste erspart.

Zugegeben: Dieser eher juristisch begründete Protest macht lange nicht so viel Wirbel, wie vier Tiger in einem Käfig in Berlin Mitte, denen Flüchtlinge zum Fraß vorgeworfen werden sollen. Allerdings bezweifle ich stark, dass der Wind, der hier gesät wird, eine tragfähige Lösung zum Fliegen bringt. Ich hoffe nur es verunsachlicht den Diskurs nicht noch unnötig, indem es den Bundespräsidenten in eine Lage zu bringen versucht, die diesem nicht zusteht. Die Politik braucht keinen Erlöser im Gauckschen Format, sondern die existierende Mehrheit in der Gesellschaft, die menschliche und faire Verfahren wünscht, muss erfahren mit welchen Tricks bei uns Recht verbogen wird, um Flüchtende zu entrechten.

Termine

6.6.-28.6.2016, täglich. Die Arena ist jeweils von 10h – 22h geöffnet und es gibt ein umfassendes Programm.
Es gibt mehrere Web-Cams über YouTube.
18.45 Uhr: Not und Spiele – Die Show (Arena)
19.30 Uhr: Zentrums-Salon: Intellektuelle, Politiker, Künstler und Journalisten im Gespräch zur Aktion (Garten Maxim Gorki Theater). Mehr auf www.gorki.de

 

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5. September 2014 13:32:13

…intensiv: eine Theatergeschichte

Das Flüchtige des ganzen Unternehmens und das letztendliche Verschwinden seiner künstlerischen Produkte konfrontiert die Historiker des Theaters mit einem entscheidenden Hindernis: Sind die Stücke einmal abgespielt, bleiben nur noch Requisiten, Kostüme, Programmzettel, Kritiken und Anekdoten. Auch Heiner Müllers Arturo Ui-Inszenierung am Berliner Ensemble wird eines Tages – sie steht immerhin seit 1995 auf dem Spielplan – in der Versenkung verschwinden und auf solcherart Überreste reduziert sein. Wie also Theatergeschichte schreiben? Monographisch wie die akademische Theaterwissenschaft? Anekdotisch wie die Memoiren und Biografien der Schauspieler, Regisseure, Bühnenbildner? Weit ausholend und akribisch auflistend wie die großen Wälzer der „Geschichte des deutschen“ – wahlweise englischen, amerikanischen, französischen etc – Theaters?

Rüdiger Schaper, Feuilletonchef des Tagesspiegels, hat sich mit „Spektakel – Eine Geschichte des Theaters von Schlingensief bis Aischylos“ für die radikal subjektive und damit schwierigste, angreifbarste Variante entschieden, sein Durchgang durch zweieinhalb Jahrtausende Bühnengeschichte ist bewusst persönlich, gekonnt historisch und hartnäckig eklektisch. Er zieht Verbindungslinien, die auf den ersten Blick weit hergeholt scheinen – von den klassischen Marmorfiguren im Karyatidensaal des Louvre zur höfischen Gesellschaft des Sonnenkönigs, die sich 400 Jahre zuvor am gleichem Ort vor Molieres Truppe scheckig lacht; von Barnett Newman zu Schlingensief; von den Nabatäer-Ruinen im jordanischen Petra zu Antonin Artaud – und die doch genau das herstellen, was den Kern des zeitgenössischen Kulturbegriffs ausmacht: fruchtbare Verbindungen schaffen, Konfrontationen ermöglichen, nichts ausschließen.

Dazu braucht es Künstler, Orte und Gelegenheiten, und Schaper erzählt von denen, die er selber in den vergangenen dreieinhalb Jahrzehnten „bei zweieinhalbtausend Vorstellungen“, auf Festivals, Reisen erlebte, von Schlingensief im Rückwärtsgang über Wilson, Chéreau, Heiner Müller, „die großen Jahre der Volksbühne“, Schleef, viele andere, und dann hinein in die zeitgenössischen Erkundungsgänge durch Moliere und Shakespeare bis hin zu den Wiederbelebungs-, den Aktualisierungsversuchen der griechischen Anfänge Aischylos, Euripides, Sophokles mit dem Höhepunkt bei Gotscheffs Perser am DT.
Was er hierbei überall hin mitnimmt, ist „die Sehnsucht nach intelligenter Emotion“ – denn darum geht es im Wesentlichen: um Intensität. Ist es doch genau das, was die Halbgeneration der zwischen 1950 und 1970 Geborenen sich am sehnlichsten wünscht: intensives (Er)leben, das was ihre Väter und Mütter nicht kannten, nicht konnten oder nicht ausdrücken wollten. Und in den großen Momenten, den großen Aufführungen, den Inszenierungen, die dich in den Sessel drücken, kann das Theater dies bieten – jene Intensität, die dann abgelöst wurde von der Blechwährung Ironie, gespeist aus Orientierungslosigkeit und einem ständig vom Scheitern bedrohten Bedürfnis nach sozialer Fokussierung; Ironie, die bis heute hierzulande die kulturelle Produktpalette maßgeblich bestimmt (und leicht genießbar macht). Und so spart Schaper auch nicht mit wehmütiger Kritik am Theater unserer Gegenwart, es ist ihm zu beschränkt, nicht wagemutig genug, „weil es nicht mehr auf große Reise geht, sondern in bekannte Gefilde.“. Doch dann kommt hier und da die Ausnahme auf die Bühne, auf die Leinwand, in den Ausstellungsraum, zwischen die Buchseiten und entschädigt für vieles: davon und von den Zusammenhängen handelt Schapers exzellentes Theaterbuch – das beste des Jahres.

 

 

3. Juli 2014 15:18:39

… ob man´s glaubt oder nicht: Lyrik-Diebstahl

Seit etwa 20 Jahren habe ich einen Lyrikkasten – THE POETRY CORNER – in der Durchfahrt des English Theatre Berlin in der Kreuzberger Fidicinstrasse, hege und pflege ihn, platziere Gedichte in diesem kleinen Glaskästchen, irgendwelche, die mir unterkommen, in Büchern, Zeitungen oder online, Gedichte, die mich ansprechen, immer nur eins, in Englisch, natürlich.

Ich lese gerne Gedichte, und so teile ich im Poetry-Kasten die, die mir etwas bedeuten, mit den Leuten, die vorbeikommen. Werke von Emily Dickinson, Auden, W. S. Merwin, um nur drei Meister zu nennen. Oder August Kleinzahler, Lucia Perillo, Matthew Sweeney – hunderte von Gedichten in den zwei Jahrzehnten, nehme ich an. Ganz unregelmäßig erneuert, mal nach drei Tagen, dann nach sechs Wochen.
Vorgestern wurde in den Kasten eingebrochen und das Gedicht gestohlen. Kein klassischer Kreuzberg-Vandalismus, nein: Der Kasten wurde etwas ramponiert, so dass man mit der Hand durchgreifen und das Gedicht stibitzen konnte.

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Gibt es etwas Bedeutenderes für einen Lyriker als dass jemand unbedingt ein Gedicht von ihm haben will und dafür die ruchlose Straftat des Lyrik-Diebstahls begeht?
Und hier muss ich leider gestehen, dass ich nicht mehr weiß, um welches Gedicht es sich handelte ….
Jetzt ist, natürlich, STEALING von Carol Ann Duffy drin.

English version of this blog entry HERE.

 

 

30. Mai 2014 10:10:05

… immer gerne: die Schweighöfers

Der kleine Schweighöfer trinkt jetzt mein Bier, jenes einfache legendäre untergärige Bier, das außerhalb Bayerns bislang nirgendwo Helles hieß, Export meistens oder Lager, wenn’s aus England kommt. Das Bier der einfachen Leute, in Halbliterflaschen; nicht diese kleinen Fläschchen mit dem Silberhalsband, früher, und dem bitteren gehopften Zeug, Pils. Da das Helle nun als Wegbier – für den Weg – den Berliner Nahverkehr inklusive der hin- und wegführenden Straßen sowie als Wegbier – das muss noch schnell weg, bevor ich gehe – die Bars der Stadt erobert hat, holten die Braugiganten fix ihre abgehefteten Export-Braurezepte wieder raus, und einer von ihnen hat gleich den kleinen Schweighöfer engagiert, damit er uns verschmitzt von großen Plakaten herunter anlächelt und die Flasche Helles hinhält. Verschmitzt, damit wir verstehen, dass das hintere Wort in dem Slogan „Die Nacht wird Hell“ natürlich englisch ausgesprochen werden muss, aber das haben die Werbefuzzis nicht gemerkt.

Der große Schweighöfer weiß, wie so was geht. Neulich hat er mich von der Bühne des Deutschen Theaters herunter immer wieder angebrüllt. Günther! Günther! Bis ich merkte, dass er Günter ohne h brüllt, er spielt dort nämlich in Demokratie, dem Stück über Willy Brandt und die Guillaume-Affäre, den Stasi-Führungsoffizier von eben jenem Guillaume, Günter; und so kommt er immer wieder angeschwebt – Drehbühne! – und brüllt mit diesem herrlichen sächsischen Einschlag eben „Günter!“ und gibt Instruktionen. Ich war sofort auf Alert, dieser mit sächsischem Zungenschlag veredelte Tonfall hat mich bei Passkontrollen an den Grenzkontrollstellen der Transitstrecke von und nach West-Berlin (Westberlin?) jedes mal auf dem Fahrersitz stramm stehen lassen. Das vergisst man nicht.

Während der große Schweighöfer bis vor kurzem wahnsinnig lange Haare, einen dicken Bart und einen kugelrunden Embonpoint hatte und damit auf der Bühne die verrücktesten Typen geben konnte, ist der kleine Schweighöfer immer ganz adrett und gibt damit den Heinz Rühmann seiner Generation. Der war auch immer bereit, mit unschuldigem Lächeln und Lied auf den Lippen für uns die härtesten Aufgaben zu übernehmen: das Mysterium Frau und die Tücken des Sozialen. Heute heißt das Sex und Konsum, und der kleine Schweighöfer bewältigt das ganz genauso bravourös und spielt dann zwischendurch den Schiller wie Rühmann den Willy Loman. Die große überzeugende Travestienummer hat er in Rubbeldiekatz auch bereits souverän absolviert; Rühmann musste dafür in den 1950er Jahren auf die gut abgehangene Klamotte Charleys Tante zurückgreifen. Im Übrigen trinkt er vermutlich gar kein Bier, eher Sauvignon Blanc wie der Rühmann früher Adenauers Möselchen.

 

 

24. September 2013 13:23:03

… eine Zumutung: Auf der Berlin Art Week kann man einfach alles machen

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Selbst üble Beleidigungen gehen auf der Berlin Art Week als Kunst durch. Mit dem leuchtend gelben Guerilla-Koffer für das English Theatre Berlin konnten wir auf der Preview kaum Anstoß erzeugen. Nur zwei Leute, eine Französin und eine Japanerin fühlten sich von dem Titel des Theaterstücks „ECHTER BERLINER !!!! IHR NICHT FUCK YOU“ mäßig herausgefordert. So konnten wir zumindest ein paar Mal unsere Botschaft bei der Zielgruppe loswerden: Jetzt läuft eine dokumentarische Theaterperformance, in der Originalzitate von 60 in Berlin lebenden „Expats“ und „Immigranten“ verarbeitet wurden. Es ist teils erschreckend aber auch merkwürdig anrührend, was der als „Ausländer“ zusammengefassten Gruppe hier an patzigem Lokalpatriotismus entgegenschlägt.

Ganz anders war dagegen die Reaktion auf der Straße: Wir waren keine 50 Meter vom Gelände der Preview runter, schon hatten wir muntere Diskussionen am Hals. „Seid ihr überhaupt echte Berliner, so wie ich?“ Da merkte dann sofort, dass das Thema britzelige Relevanz in unseren Kiezen hat.

 

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16. Oktober 2012 15:55:05

… philosophisch: Die erste Theoriekantine in der Vierten Welt mit uneingeschränktem Urteilsvermögen

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Dirk Stetton, Dirk Cieslak, Maria Muhle, Ludger Schwarte


Am Kotti gibt es abgelegene Ecken, in denen sich theoretisierende Bürger zum angeregten Diskurs in der Theoriekantine treffen. Diese findet man natürlich in der Vierten Welt, einer performanten Parallelwelt, in der man sich einer so dringenden Fragen widmen kann, wie zum Beispiel: Wie schaffen wir es unserer Rechtsprechung mit den Anforderungen einer wirklichen (auch genannt „radikalen“) Demokratie zu verbinden?

Drei Philosophen sitzen da mit einem Theatermacher im freundschaftlich, zänkischen Gespräch, um ihre Positionen aneinander zu reiben. Ludger Schwarte veröffentlichte unlängst bei Merve das Buch Vom Urteilen, das Gegenstand der ersten öffentlichen Diskussion bildet. Dirk Setton stellt das Buch vor und kritisiert es gleichsam, unterstützt von einer hinterfragenden Maria Muhle. Ludger Schwarte gerät in eine Verteidigungshaltung, aus der er aber sogleich vom plenum-artig hinzugezogenen Publikum geogen wird. Schnell wird verhandelt, wie Praxis-tauglich oder zumindest theoretisch funktionierend die Ansätze sein oder werden könn(t)en. Dirk Cieslak (Macher der Vierten Welt) ordnet unschwer die Gesprächsströme.

Ich hab selten einen so interessanten Gesprächsabend erlebt, bei dem Podium und Publikum sich auf gegenseitig anregendem Niveau Bälle zuspielten.
Die nächste Theoriekantine findet am 15. Dezember statt.

 

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26. Februar 2012 11:59:25

… ineinandergedreht: Ein Stück über das Rennen zur Entdeckung der DNA Stuktur. Photograph 51 am English Theatre Berlin


Eine Frau in einem wissenschaftlichen Labor, damals in den 1940ern und 50ern: Das war irgendwie immer noch ein Fremdkörper, etwas Ungeheures, etwas das nicht in die Männer-Clubs passte, das störte und alles verändern wollte. Es war eine Bedrohung der geordneten Welt, die durch die beiden Weltkriege ohnehin schon zu sehr aus den Fugen geraten war.

Heute weiß fast jeder, wie die DNA-Struktur aussieht, die typisch doppelt verdrehten Spiralkörper, auf denen die Basenpaare geordnet sind, aus denen der Code des Lebens geschrieben ist. Es sind die Datenträger der Gene, die Substanz des Genoms, das was alles was wächst zu dem macht, was es ist. Gleichartig für Mensch, wie Tier, wie Bakterie, wie Pflanze. Was heute Allgemeinwissen ist, war damals das ganz heiße Forschungsgebiet der Wissenschaft und mehrere Teams versuchten der DNA (auf deutsch DNS = Desoxiribonucleinsäure) auf die Pelle zu rücken. Ganz vorne mit dabei war die junge, aufstrebende Forscherin Rosalind Franklin, die mit Röntgenaufnahmen experimentierte und auf diese Weise sehr aufschlussreiche Schattenbilder der Helixstrukturen erzeugte. Vom Leiter des Londoner King’s College protegiert kam die bereits rennomierte Doktorin an das Institut, an dem auch Dr. Wilkins arbeitete, der seit seiner Mitarbeit an der Forschung zum Bau der Atombombe in einer heftigen Sinnkrise war. Die Beziehung der beiden „Kollegen“ lief von Anfang an schlecht, da es ein heftiges Kompetenzgerangel darum gab, wer für wen auf welchem Forschungsfeld tätig war. Außerdem passten ihre Gewohnheiten nicht zusammen, Rosalind Franklin war eher akribisch, eigenbrödlerisch, misstrauisch und wurde auch noch institutionell von gemeinsamen Essen und anderen Freizeitbeschäftigungen ausgeschlossen. Wilkins dagegen war in seinen Kreisen bestens etabliert und redete gerne und viel mit befreundeten Wissenschaftlern. Neben dem unkooperativen Team in London forschte noch das weit unkonventionellere Team, bestehend aus James Watson und Francis Crick, in Cambridge am selben Thema. Doch besonders der jüngere Watson erkannte schnell, dass sie mit einem Modell der DNA-Struktur weltberühmt werden konnten. Die beiden legeten los, machten „some sience“. Im Gegensatz zur durchleuchtenden und rechnenden Rosalind Franklin, bogen Watson und Crick mit Drähten, Klammern und Hölzchen wenig oder gar nicht funktionierende Molekülmodelle zusammen. Ein solches bekam auch Franklins Kollege Wilkins zu Gesicht, der die beiden Gegenspieler dann unvorsichtiger Weise, und aus für ihn selbst später beschämenden Motiven, mit den weiterführenden Röntgenaufnahmen aus der Hand von Rosalind Frankling versorgte. Nur so gelang es ihnen, ihr berühmtes Modell zu konstruieren, das bis heute als der Durchbruch zur Entdeckung der DNA-Doppelhelix gilt. Im Fachmagazin NATURE, in dem die Erstveröffentlichung geschah, wurden drei Artikel zusammenhängend gezeigt. Auch Rosalind Franklin hatte ihre Berechnungen soweit gebracht, dass sie mit ihrem Artikel das Watson-Crick-Modell „bestätigte“, wobei deren Modell ja tatsächlich eher darauf „basierte“. 1962 bekamen aber nur die Männer Watson, Crick und Wilkins den Nobelpreis dafür. Rosalind Franklin war zu diesem Zeitpunkt schon an Krebs verstorben.

Im English Theatre Berlin wird das verdrehte Stück, bei dem ständig Personen von ganz unterschiedlichen historischen Orten (London, Cambridge, Amerika, Paris, Schweiz) innerhalb von einzelnen Sätzen verschränkt auftreten, vor allem durch die Lichtinszenierung entwirrt. Dies ist eine grandiose Analogie zur auf der Bühne durchgeführten Forschung mit Röntgenaufnahmen, deren kristaline Fotoergebnisse fast wie die Grundskizzen zum Bühnenaufbau wirken. Ebenso verschränkt wie sich im Laufe des Stücks die DNA-Struktur zeigt, wird auch das Rennen darum, wer als erstes über das Thema publizieren kann, inszeniert. Die gesellschaftlichen Codes der 50er-Jahre-Forschergemeinde werden sichtbar. Es ist ein zügiger Einakter (erst 2008 von Anna Ziegler veröffentlicht), ein sich zuspitzendes Sprech-Stück, bei dem besonders über die Randfiguren amüsante Sidekicks eingeworfen werden.

Photograph 51 am English Theatre Berlin – noch bis zum 10 März (immer 20:00 Uhr außer sonntags und montags).

 

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6. November 2011 19:35:36

… dramatisch: Selbstmord eines Dichters

Es war heute beinahe schon unheimlich still im Zuschauerraum. Sekunden vergingen, ehe sich der Bühnenvorhang hob und die Grande Dame des Deutschen Theaters, Inge Keller, mit der Lesung begann. Darin ging es, kurz gesagt, um eine alleinstehende Frau mit zwei Kindern, die nun zum dritten Mal schwanger wird, jedoch den Vater nicht kennt. Um ihn zu ermitteln, setzt sie eine Annonce in die Zeitung und fordert ihn auf, sich bei ihr zu melden, um ihn zu heiraten. Die Erzählung beginnt wie folgt:

In M…, einer bedeutenden Stadt im oberen Italien, ließ die verwitwete Marquise von O…., eine Dame von vortrefflichem Ruf, und Mutter von mehreren wohlerzogenen Kindern, durch die Zeitungen bekannt machen: daß sie, ohne ihr Wissen, in andre Umstände gekommen sei, daß der Vater zu dem Kinde, das sie gebären würde, sich melden solle, und daß sie aus Familien-Rücksichten, entschlossen wäre, ihn zu heiraten …“

Inge Keller weiß, wie nur wenige deutsche Schauspieler, ihre Worte, Pausen, Gesten und Mimik wohl zu setzen. Trotz des anspruchsvollen Textes ist es ein Genuss, ihr zu lauschen. Natürlich ist auch der Autor der Erzählung, der präzise Sprache mit komplizierten Satzkonstruktionen bewundernswert unfallfrei verbindet, daran nicht unbeteiligt. Er erzeugt Spannung, obwohl die Handlung Jahrhunderte zurück liegt, wie auch bei dieser Erzählung, die wie folgt beginnt:

An den Ufern der Havel lebte, um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, ein Roßhändler, Namens Michael Kohlhaas*, Sohn eines Schulmeisters, einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit …“ (Hier geht es im folgenden um das Recht des Einzelnen im Staat und seine schließliche Durchsetzung durch Selbstjustiz)

Beide Erzählungen – „Die Marquise von O….“ und „Michael Kohlhaas“ – stammen aus der Feder von Heinrich von Kleist (1777-1811), deutscher Dramatiker (u.a. „Der zerbrochne Krug“) und Erzähler. Die in jenen beiden gewählten Sujets lassen bereits erahnen, dass er ein „Außenseiter im literarischen Leben seiner Zeit“ war. Immer wieder setzte sich Kleist künstlerisch mit dem Verhältnis von Bürger, Obrigkeit, Recht und Moral auseinander, doch scheiterte er immer wieder am Staat, u.a. durch Aufführungsverbot für „Der Prinz von Homburg„. Dieses, Krankheit und materielle Not führten schließlich zu dem verhängnisvollen Ende. Am 21.11.1811, also vor fast genau 200 Jahren, schied Heinrich von Keist, gemeinsam mit einer Freundin, am Kleinen Wannsee aus dem Leben. Ob der dort befindliche kleine Gedenkstein inzwischen restauriert wurde, ist mir nicht bekannt.

* An die historische Figur des Michael Kohlhase oder Michael Kohlhaas erinnert der kleine Ort Kohlhasenbrück am südwestlichen Zipfel Berlins gelegen.

Nachtrag 19.11.11: Lt. Berliner Zeitung von gestern wurde die Grabstätte am Kleinen Wannsee erneuert und wird am 21.11.11 übergeben.

 

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