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Archiv der Kategorie ‘Kino‘

30. Mai 2014 10:10:05

… immer gerne: die Schweighöfers

Der kleine Schweighöfer trinkt jetzt mein Bier, jenes einfache legendäre untergärige Bier, das außerhalb Bayerns bislang nirgendwo Helles hieß, Export meistens oder Lager, wenn’s aus England kommt. Das Bier der einfachen Leute, in Halbliterflaschen; nicht diese kleinen Fläschchen mit dem Silberhalsband, früher, und dem bitteren gehopften Zeug, Pils. Da das Helle nun als Wegbier – für den Weg – den Berliner Nahverkehr inklusive der hin- und wegführenden Straßen sowie als Wegbier – das muss noch schnell weg, bevor ich gehe – die Bars der Stadt erobert hat, holten die Braugiganten fix ihre abgehefteten Export-Braurezepte wieder raus, und einer von ihnen hat gleich den kleinen Schweighöfer engagiert, damit er uns verschmitzt von großen Plakaten herunter anlächelt und die Flasche Helles hinhält. Verschmitzt, damit wir verstehen, dass das hintere Wort in dem Slogan „Die Nacht wird Hell“ natürlich englisch ausgesprochen werden muss, aber das haben die Werbefuzzis nicht gemerkt.

Der große Schweighöfer weiß, wie so was geht. Neulich hat er mich von der Bühne des Deutschen Theaters herunter immer wieder angebrüllt. Günther! Günther! Bis ich merkte, dass er Günter ohne h brüllt, er spielt dort nämlich in Demokratie, dem Stück über Willy Brandt und die Guillaume-Affäre, den Stasi-Führungsoffizier von eben jenem Guillaume, Günter; und so kommt er immer wieder angeschwebt – Drehbühne! – und brüllt mit diesem herrlichen sächsischen Einschlag eben „Günter!“ und gibt Instruktionen. Ich war sofort auf Alert, dieser mit sächsischem Zungenschlag veredelte Tonfall hat mich bei Passkontrollen an den Grenzkontrollstellen der Transitstrecke von und nach West-Berlin (Westberlin?) jedes mal auf dem Fahrersitz stramm stehen lassen. Das vergisst man nicht.

Während der große Schweighöfer bis vor kurzem wahnsinnig lange Haare, einen dicken Bart und einen kugelrunden Embonpoint hatte und damit auf der Bühne die verrücktesten Typen geben konnte, ist der kleine Schweighöfer immer ganz adrett und gibt damit den Heinz Rühmann seiner Generation. Der war auch immer bereit, mit unschuldigem Lächeln und Lied auf den Lippen für uns die härtesten Aufgaben zu übernehmen: das Mysterium Frau und die Tücken des Sozialen. Heute heißt das Sex und Konsum, und der kleine Schweighöfer bewältigt das ganz genauso bravourös und spielt dann zwischendurch den Schiller wie Rühmann den Willy Loman. Die große überzeugende Travestienummer hat er in Rubbeldiekatz auch bereits souverän absolviert; Rühmann musste dafür in den 1950er Jahren auf die gut abgehangene Klamotte Charleys Tante zurückgreifen. Im Übrigen trinkt er vermutlich gar kein Bier, eher Sauvignon Blanc wie der Rühmann früher Adenauers Möselchen.

 

 

8. Februar 2014 20:48:53

… räumlich: Film als Installation im Berlinale Programm Forum expanded in St. Agnes

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Welch ein herausragender Kontrast! Die Hardware: Ein mächtiges sakrales Gebäude, vollkommen nüchtern und leer, blockiger, rechtwinkliger Beton, geplant am Reißbrett in vor-digitaler Zeit. Darin die Software: Ein auf ein Halbrund projizierter 3D-Film, aufgenommen in einem vollgestopften Requisitenlager, halbtransparent gerendert auf der Grundlage von Milliarden einzelner Scan-Punkte, über die Tausende von mehr oder weniger antike und figurale Artefakte ersichtlich werden. In der Installation „AFTERIMAGE trifft die analoge Ego-Shooter-Architektur der ehemaligen St. Agnes Kirche auf digitalisierte Raum-Haptik von Clemens von Wedemeyer und beides verstärkt sich gegenseitig zu einem phantastischen Erlebnis.

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Derart aufgeladen kann man die üblichen Endlos-Film-Installationen und langweiligen Sound-Installationen ringsherum ertragen.

Berlinale Forum Expanded Ausstellung in St. Agnes, Alexandrinenstraße 118-121, 10969 Berlin
Täglich, 6.2. bis 17.2., 11:00 – 19:00

 

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23. September 2013 23:11:51

…Gemeinschaft: Ummah, ein Film, der Spaß macht und für Toleranz wirbt

Der Anfang ist blutig und brutal. Aber es folgt kein schauerliches Gemetzel. Ummah – Unter Freunden ist eine liebenswerte, dramatische, schöne, sympathische Geschichte über Toleranz und Freundschaft.

Daniel Klemm (Frederick Lau) arbeitet als V-Mann für den Verfassungsschutz, als ihn ein Job in Sachsen aus der Bahn wirft. Statt weiter Neonazis zu jagen soll er sich ein paar Monate lang in einer Schutzwohnung in Neukölln regenerieren. Eine unrenovierte, vermüllte Bruchbude, aus der er auch bis zum Ende des Films nichts macht. Dafür erkundet er den Kiez und wird liebevoll in eine migrantische Clique um den umtriebigen Abbas (Kida Khodr Ramadan) und den aus einer eigenen eher düsteren Vergangenheit in die Legalität stolpernden Jamal (Burat Yigit) integriert. Sie nehmen ihn zu einer türkischen Hochzeit im Wedding mit, zum Islamunterricht, in die Teestube und zum Abholen der Kinder in den Kindergarten. Er wird Zeuge der handfesten Diskriminierung von Männern mit dunklen Haaren und dunklen Augen durch die Polizei. Wird irgendwo irgendwem etwas geklaut, ist jeder „Türke oder Araber“ verdächtig. Und die weiße Mehrheitsgesellschaft spart auch nicht mit subtilen Attacken: Genau gegenüber vom Kindergarten klebt ein riesiges Werbeplakat mit einer fast nackten Frau.

Cüneyt Kaya zeichnet in seinem Spielfilmdebüt mit viel Witz und Gefühl ein Portrait einer (oder zweier) Gesellschaft(en), die sich unausweichlich nah und oft doch so fern sind. Die Vorurteile der biodeutschen Beamten spiegeln sich im alten Mann der migrantischen Community, der die Jungen ebenso heftig vor „dem Deutschen“ warnt. Doch die next generation auf beiden Seiten lässt sich nicht davon abhalten, den Versuch friedlich-freundschaftlicher Koexistenz zu wagen. Das Happy End bleibt aus, und doch macht der Film Hoffnung, dass es ein solches geben kann. Wenn man denn nur will …

 

 

15. Dezember 2012 14:05:08

… grenzüberschreitend: „Marina Abramović – The Artist is Present“ im Kino

Sie hat all das getan, wovor wir Angst haben, was uns zu lange dauert, wovor wir zurückschrecken, wovor wir die Augen verschließen – gerade dem setzte sie sich aus, nahm es an, blickte ihm ins Auge, hielt es aus: als Kunstprojekt, als Performance, als extremes Wagnis – die große Marina Abramović.

Man muss ihre Performances, die sie seit den frühen 1970er Jahren, ja was: präsentiert? zelebriert? durchlitten? hat, nicht aufzählen, hier oder hier sind sie alle gelistet.
Erstaunlich allerdings, dass all diese so stark lokal und zeitlich situierten Performances jetzt doch musealisierbar sind, und noch erstaunlicher, dass Marina Abramović im Zusammenhang mit ihrer großen New Yorker Retrospektive vor zwei Jahren wieder eine Form der Performance gefunden hatte, die Ort und Zeit perfekt entsprach, zu sehen im Doku-Film „Marina Abramović – The Artist is Present“.

Kern der Retrospektive war eine zweieinhalbmonatige Präsenzperformance, bei der sie vom 14. März bis 31. Mai 2010 während der Öffnungszeiten des Museums of Modern Art – insgesamt also 736 Stunden – auf einem Stuhl saß und den Besuchern als Gegenüber, als Spiegel, als Projektionsfläche aller denkbaren Gedanken – für viele jedoch, man merkt es ihnen sogar im Film an, als emotionales Minenfeld – zur Verfügung stand: Man setzte sich hin und blickte sie an. Solange man wollte, konnte. Am Ende waren es 1565 Leute.

Im Sommer hat Abramovic den Plan für ein Performance Center nördlich von New York bekanntgegeben, das von Rem Koolhas und Shohei Shigematsu gebaut wird. Einzige Bedingung für künftige Besucher: Sie müssen sich verpflichten, mindestens sechs Stunden zu bleiben. “I’m asking you to give me your time, and if you give me your time, I give you experience.”

Wer für Marina A. 100 Minuten im Kino übrig hat, wird reich belohnt.

„Marina Abramovic – The Artist is Present“ zur Zeit noch in diversen Arthouse-Kinos in Berlin, bald sicher als DVD.

 

Kategorie:

Kino | Kunst | Performance

 

21. Dezember 2011 13:12:26

… wortklauberisch: Der Gott des Gemetzels von Roman Polanski

Vier gepflegte New Yorker, jeweils als Elternpaare von zwei Jungs, treffen sich in der Wohnung des einen Paares, um die Probleme zu klären, die dadurch entstanden, dass der eine Junge dem anderen bei einer Rauferei unter Freunden mit einem Stock zwei Zähne ausgeschlagen hat. Schon nach wenigen Sätzen ist klar, dass dabei sehr unterschiedliche Ansichten zu den Themen Schuld, Verantwortung und Erziehung aufeinander treffen. Hinter einer ausnehmend höflichen und vorsätzlich freundlichen Fassade dreht sich das Gespräch recht schnell ins ebenso persönlich Verletzende wie grundsätzlich Ideologische. Ein brillant ätzender Satz toppt den vorigen und bald lösen sich die paarweise verteilten Fronten auf: man solidarisiert sich mal nach Geschlecht, Herkunft, sozialer Schicht bis sämtliche Bande feinsäuberlich zerrissen sind. Es wäre an sich furchtbar deprimierend, wie mies diese Großstädter aufeinander losgehen, wenn nicht die Schauspieler allesamt großartig und die Dialoge dieser Theateradaption von Yasmina Reza so treffen komisch wären.

Gesehen im Kino International

 

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Kategorie:

Kino

 

30. November 2011 10:09:13

… Filmsalat: Libido im Bratenrock

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Obwohl (oder gerade weil?) es sich hierbei um „die wahre Geschichte einer Begegnung“ zweier bedeutender Männer und einer ebenfalls bekannten Frau handelt, spielt dieser Film quasi in einem Reinraum: Staubfreie Luft, gerade Wege, beschnittene Sträucher, schneeweiße Kragen, trockene Dialoge und garantiert erotikfrei. Keira Knightley müht sich als Sabina Spielrein wirklich redlich, die hysterischen, epileptischen Anfälle einer seelisch Kranken nachvollziehbar zu machen. Allein man sieht es, dass sie schauspielt. Michael Fassbender als (Carl) Gustav Jung und Viggo Mortensen als Sigmund Freud führen über einen Zeitraum von gefühlten zehn Stunden Dialoge und Briefwechsel zu psychoanalytische Themen, insbesondere über die Rolle der Sexualität und deren Folgen für die Welt. Es wird aber nicht nur analysiert, sondern mit Sabina auch praktiziert – ohne dass Gustav seine Gamaschen ablegt.

Besonders bizarr verläuft ein Gespräch – die übrige, große, Freudsche Familie hört de facto hypnotisiert mit und verputzt dabei ihr sonntägliches Bratenstück – über Libido und andere Herausforderungen, derweil der allgegenwärtige Zigarrenqualm den Durchblick zusätzlich vernebelt. Ich frage mich – und der andere Zuschauer im Saal vielleicht nun auch – ob David Cronenberg in diesem Film dem Klischee vom Psychoanalytiker entgehen wollte, in dem er es haarklein und stinklangweilig genau so vorführt, wie man meint, dass es wäre. Ich habe versucht aus den hochgestochenen Dialogen etwas zu lernen oder Ironie zu extrahieren, wo doch keine war. Schade, denn alle drei waren interessante, tragische Persönlichkeiten. Das Film-Wirken der beiden Männer erinnert mich jedoch fatal an einen auch heute zu beobachtenden Trend: Wenn ich von einer Sache schon nicht viel verstehe, kann ich aber immer noch Ratgeber werden und Leute coachen. Übrigens heißt der Streifen: „Eine dunkle Begierde„.

Dieses Kinoerlebnis fand übrigens im „Moviemento“ statt, dem – laut Eigenwerbung – ältesten (gegründet 1907) Kino Deutschlands. In dem Haus am Kottbusser Damm 22 ist immer was los. Vorgestern z. B. strömten einige Schulklassen mit angeregten Gesichtern aus der Vorstellung, nachdem sie sich vorher den, 2010 herausgekommenen, Streifen „The Social Network“ angesehen hatten. Im dem Kino, dass ja eigentlich aus mehreren kleineren Sälen besteht, herrscht Arbeitsatmosphäre und Improvisationsgeist. Von letzterem kündet u.a. der über dem Empfangstresen hängende Lampenschirm: Er war in seinem früheren Leben mal eine Waschmaschinentrommel.

Noch älter als das „Moviemento“ ist auf jeden Fall Max. Nachname Skladanowsky. Geboren 1863 in Pankow, gestorben am 30.11.1939, also heute vor 72 Jahren, in Berlin. Max Skladanowsky war mit seinem Bioscop einer der Wegbereiter des Films!

 

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18. November 2011 19:45:42

… Kurzkritik: „Poll“

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Die Schwiegermutter meines Onkels war Bäuerin und stammte aus Ostpreußen. Von ihr hörte ich, wenn es z. B. um die nie endende, öde Arbeit des Rübenverziehens ging, des öfteren das heute fast ausgestorbene Wort „marachen“ (schwer und schnell arbeiten). Sie sprach auch diesen so sehr gemütlich klingenden Dialekt, der dem Baltendeutsch ähnelt, das in dem Film „Poll“ immer wieder zu hören ist.

Die Handlung des Streifens, auf wahren Begebenheiten fußend, führt in das Estland des Jahres 1914 zurück – am Ende des Films hört der Zuschauer die Nachricht vom Ausbruch des 1. Weltkrieges. Regisseur Chris Kraus verknüpft in dieser Produktion familiäre Erkundungen – eine Hommage an Oda Schaefer (eine Großtante von Kraus und heute völlig vergessene Lyrikerin) – mit einem historischen Exkurs in das bis 1918 zu Russland gehörende Estland (Baltikum). Beides wird mit einer ungewöhnlichen Liebesgeschichte zwischen der blutjungen, aus besserem – zudem deutsch sprechendem – Hause stammenden, Oda und einem baltischen Anarchisten (Tambet Tuisk), der gegen die Russen kämpft, angereichert.

Edgar Selge spielt den Vater von Oda, der als abgeschobener Pathologie-Professor einen feinfühligen, aber auch ambivalenten Charakter (Selge spielt nicht zum ersten Mal einen solchen Typ) verkörpert. Jeanette Hain tritt als dessen Ehegattin, die ein leidenschaftliches Verhältnis mit dem Hofverwalter (Richy Müller – sehr einprägsam) pflegt und Oda’s Mutter, in Erscheinung. Die wirklichen Entdeckungen dieses Films, der auch auf kleine Schock- und Horroreinlagen (wozu die Pathologie geradezu einlädt) nicht verzichtet, sind jedoch das wunderbar kraftvolle und gleichzeitig sensible Spiel der Laiendarstellerin Paula Beer als junge Oda, zweitens der Drehort, mit dem ins Wasser gebauten, wunderlichen und unheimlichen Schlosshaus und schließlich die lichtvollen Bilder dieser Landschaft am Meer, welche uns die Kamera immer wieder vor Augen führt.

Der Film lief bereits im Februar 2011 in den Berliner Kinos, leider habe ich den Streifen seinerzeit verpasst. Wem es ebenso erging, kann sich die, seit einigen Tagen angebotene, DVD ausleihen. Unbefriedigend, zumindest auf meiner Film-Konserve, ist die teilweise schlechte Tonqualität. Man hört z. B. von den Dialogen am Beginn nur Genuschel. Also, entweder vorher mal reinhören oder bis zu einer TV-Ausstrahlung warten.

 

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4. November 2011 21:22:38

… never for money: Indie-Kino mit Sean Penn und David Byrne

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Sean Penn in Cheyenne. This must be the place. [© Delphi Filmverleih]

Never for money. Always for love! So lautet das Motto des neuen Films des italienischen Filmemachers Paolo Sorrentino, der 2008 mit Il divo in Cannes den Jurypreis gewann. Nie für Geld – aber Geld hilft. Und Geld hat Cheyenne, der gealterte Rockstar der 1980er Jahre – genial zottelig, drömelig und slow gespielt von Sean Penn – dessen beste Jahre als Musiker, Junkie und Alk hinter ihm liegen. Heute residiert er im Vakuum seiner Erinnerungen, glücklich verheiratet mit Jane (Frances McDormand) in einer prächtigen Villa im ewig grünen Irland. Mit wasserlosem Swimmingpool („Hier spielen wir Pelota …“) und Designerküche, an deren Wand in großen Lettern CUISINE steht, in der Cheyenne Tiefkühlpizza im Backofen aufwärmt. Opulenz, Dekadenz – und Langeweile, gepaart mit Zynismus, Selbstironie und wilder Entschlossenheit, das alte Leben auf der Überholspur mit dem Phlegma der zugedrönten Schnecke zu konterkarieren. Vom einstigen Ich geblieben sind Schminktipps („Ein Hauch Puder auf die Lippen, und dein Lippenstift hält den ganzen Tag.“) und ein Rollkoffer, der farblich abgestimmt auf den jeweiligen Zweck zum Einkaufen ebenso mitgenommen wird, wie zum Briefkasten, auf den Friedhof oder zur Schiffspassage auf der Queen Mary nach New York („Ich bin 30 Jahre nicht in ein Flugzeug gestiegen.“).

Dreißig Jahre ist es her, dass Cheyenne zum letzten Mal mit seinem Vater sprach, der sich als Ausschwitzüberlebender in Amerika ganz der Verfolgung seines Peinigers im KZ verschrieben hatte, und ohne ihn zu finden starb. Wie das Verschwinden des Sohnes seiner Nachbarin (Olwen Fouéré) und die Bindungsunfähigkeit deren Tochter Mary (Eve Hewson) lässt Cheyenne das Leiden der anderen scheinbar unberührt. Zunächst jedenfalls. In seinem Mikrokosmos herrscht die Gleichgültigkeit des ein für alle Mal Übersättigten. Kenn ich, war da, alles schon gehabt. Cheyenne ist Nabel der Welt, und sich selbst genug („Ich weiß nicht, ob ich die Tesco-Aktien verkaufen soll …?“). Und doch treffen der Tod des Vaters und dessen nie vollzogene Rache am Agenten des Holocaust einen Nerv beim Sohn. Fern vom irischen Idyll macht sich Cheyenne mit Hilfe des Nazijägers Mordecai Miller (Judd Hirsch) auf die Suche nach dem KZ-Wächter Alois Lange (Heinz Lieven) – via Michigan und New Mexico bis Utah. Den bizarr schönen Stadtansichten aus Dublin folgt das Roadmovie im Pick-up durch grandiose amerikanische Landschaft. Und weil die 1980er auch New Age und Esoterik waren, findet Cheyenne am Ende … auch sich selbst. Nicht da, wo er sich irgendwann einmal verloren hatte, und doch authentisch.

Cheyenne. This must be the place ist ein sympathischer Film, der vom Charisma seiner bis in die kleinste Nebenrolle optimal gecasteten Darsteller und dem Soundtrack von David Byrne und Will Oldham ebenso lebt, wie von seinen zahlreichen zarten Ideen, untergründigem Humor, minimalistischen Dialogen und exquisiten Bildern (Kamera: Luca Bigazzi). 118 Minuten voll Witz und Tragik, Wehmut und Optimismus, und sehr viel Gefühl. Am 10. November kommt die irisch-französisch-italienische Koproduktion ins Kino. Gerade rechtzeitig, um uns unterlegt von sonnigem Postpunk und New Wave Klängen den beginnenden Winter in Deutschland zu versüßen.

 

Kategorie:

Geschichte | Kino | Musik | Pop

 

4. Oktober 2011 22:39:48

… Es war einmal: „Le Havre“

Es passte zeitlich und so bin ich zur Nachmittagsvorstellung gegangen. Dann, wenn auch Kinder ins Kino kommen. Aber es erschienen nur noch zwei ältere Ehepaare. Vielleicht lieben auch sie Märchen, so wie sie uns Aki Kaurismäki vorführt.

Es waren einmal ein Mann und eine Frau. Beide lebten bescheiden, in Eintracht und zufrieden. Sie wohnten in dieser französischen Hafenstadt, deren Name so luftig klingt wie eine leichte Brise auf See und dennoch sah man beide nie lachen. Eines Tages begab es sich, dass im Hafen der Stadt ein großes Behältnis auftauchte, in dem Menschen aus Afrika bis nach Frankreich gekommen waren. Einer von ihnen, ein 15-jähriger Junge floh, wurde dann von dem guten Mann und seiner Frau versorgt und schließlich sogar für viel Geld, welches sich der Mann mit Unterstützung anderer, die auch ein gutes Herz hatten, besorgte, zu seiner Mutter nach England verschifft.

Die Handlung des Films ist in seiner Realitätsfremdheit kaum noch nachvollziehbar. Das beginnt damit, dass der Hauptdarsteller weder ein Schuhputzer ist, noch sich so benimmt. Die Handlung wird fortgeführt durch irreale Aufnahmen von der Öffnung des seit zwei Wochen unterwegs befindlichen Containers, die Flucht des Jungen vor den Augen der Polizei, dem Verhalten des Kriminalkommissars – man könnte das fortsetzen. Bauten, Ausstattung und Interieurs des Films – man schaue sich allein die Wohnungseinrichtung und die mit Ölfarbe angepinselten Krankenhauswände an – erwecken den Eindruck, als spiele die Handlung vor 30-40 Jahren, dabei wird laufend mit Euro-Scheinen hantiert.

Aber: Aki Kaurismäki ist der Filmemacher langdauernder Momente und er hält an Dingen fest, die altmodisch wirken und langsam aussterben. Seine Aufnahmen der Menschen und Dinge sind Stillleben, die in einigen Situationen an holländische Malerei des 17. Jahrhunderts erinnern, so bei Wiedergabe der Gläser in der Kneipe, des Hundes und der Zimmereinrichtung. Die Musik des Films wechselt von melancholischer Musette bis zu handgemachtem Rock’n Roll. Der grauhaarige Little Bob mit der roten Lederjacke singt im Refrain das exemplarische „Long time ago …“. Besonders viel Zeit widmet der Kameramann den Gesichtern beider Helden des Films, gespielt von Andre Wilms und Kati Outinen. Diese werden oft in Nahaufnahmen gezeigt, aber sie sind meist unbewegt, ruhen in sich. Nur selten sind stärkere Regungen erkennbar, so als die Frau in stummer Verzweiflung ins Krankenhaus muss. Kaurismäki führt uns das einfache Leben, Nächstenliebe und Solidarität unter Menschen vor. In diesem Film gibt es zusätzlich auch ein paar ironische Untertöne (z.B.: Der Filmname des Haupthelden ist Marx, der sich im Restaurant gerade mal ein Omelette, aber nur aus einem Ei leisten kann). Für all das schätze ich diesen großen Filmemacher.

 

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3. Oktober 2011 09:48:50

… ein Ereignis: „Das weiße Band“ *

Der Film „Das weiße Band“ lief im Januar 2010 in den Berliner Kinos und wurde seither auch im Fernsehen gezeigt.

Die Handlung spielt in einem norddeutschen Dorf in den Jahren unmittelbar vor dem 1. Weltkrieg. Hauptfiguren in dieser beinahe archaischen Umgebung sind ein überaus sitten- und glaubensstrenger, evangelischer Pastor mitsamt seiner großen Familie; ein Hausarzt, dem die Frau gestorben ist und der nun mit der Hebamme, die ihm das Haus besorgt, zusammenlebt; ein Baron, der als Gutsbesitzer Herr über alles und jeden ist und ein junger Lehrer, der versucht, in der dörflichen Mischung aus Dumpfheit, Elend, Neid, Intoleranz, Gnadenlosigkeit und sehr bescheidenen Freuden zu bestehen.

Der Film von Michael Haneke bietet eine Reihe hochkarätiger, schauspielerischer Leistungen, eine ruhige und sorgfältige Kamera, einen Erzähler, der den Zuschauern den Ablauf des Geschehens in einer einfachen, wie klaren Sprache ergänzt und verbindet dies alles zu einem künstlerischen Ereignis, wie man es nur selten auf der Leinwand erleben kann. Der Streifen – in schwarz/weiß gedreht – ist spannender als ein Kriminalfilm und in vielen Einstellungen präzise wie ein Kammerspiel. Insbesondere dann, wenn die Kamera dicht am Schauspieler agiert, gelingen beeindruckende Szenen, wie zwischen Dorfarzt und seiner Haushälterin (Hebamme) oder der Besuch des Lehrers bei den Eltern seiner Freundin.

Das Wunderbarste an diesem Film ist jedoch das Spiel der Kinder, die hier in großer Zahl das familiäre, schulische und dörfliche Leben dieser Zeit nachempfindbar machen. Manche Szenen, wie das Verhör eines Mädchens durch die Polizei oder wie der „Herr Vater“ von seinem jüngsten Sohn einen Vogel geschenkt bekommt, vergisst man nicht so schnell. Wer es auch schaffte, die Kinder (fünf bis sechzehn Jahre) zu diesem Spiel vor der Kamera zu inspirieren, dem ist etwas Großes gelungen.

Wir erleben mit diesem Film ein Kunstwerk herausragender Qualität! Wer möchte, heute abend 20:15 in der ARD erstmals oder nochmal.

* Dieser Text erschien, hier nur leicht verändert bzw. aktualisiert, bereits am 21.1.2010 im Hauptstadtblog.

 

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Alltägliches | Geschichte | Kino | Kunst

 

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