24. März 2016 12:33:48
….kühl: Roland Schimmelpfennigs erster Roman
Man sagt, es gebe außer historischen Krimis keine guten neuen Berlin-Romane. Hier ist einer: Roland Schimmelpfennigs „An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts“ – ein Blitzlichtroman, der für einen kurzen Moment eine Luke aufmacht, durch die wir das Gewusel der großen Stadt sehen, bevor sie wieder zugleitet. Dahinter gehen, schlendern, laufen, schießen, stolpern vorbei: ein Junge und ein Mädchen auf der Flucht aus Brandenburg, Agnieszka und Tomasz aus Polen, Jacky und Charly aus dem Späti, die zornige Nadine, die Väter, die Mütter, und und und, allesamt Getriebene und Festgezurrte gleichermaßen, denn die Gegenwart pulsiert, während die Vergangenheit eine Last ist, von der sich niemand befreien kann. Nur der Wolf aus dem Osten schnürt frei.
Der Zufall regiert, nur der Wille hat ihm etwas entgegenzusetzen. So ergeben sich Geschichten, wie sich in Schimmelpfennigs Stücken immer Geschichten erst langsam zusammenfügen, aus Hingetupftem, aus Begegnungen, aus dem Zusammenspiel von Zufall und Notwendigkeit, the possibilities are endless, wie Onkel Lou singt, hier herrscht die Demokratie der Möglichkeiten, bedroht nur – Schimmelpfennig ist nicht naiv – von Egoismus, Gier und den sozialen Fliehkräften. Der angemessene Stil ist ein kühler impressionistischer Realismus des Partikularen, seine Begleitmusik ein untergründiges Vibrieren. Man muss Geduld haben mit diesem Schreiben, es ist nicht hektisch, es gleitet, es liest Dinge auf unterwegs, es verharrt – nichts ist endgültig, panta rhei, jemand macht kurz das Licht an, wir werfen einen Blick, machen uns ein Bild, dann wird es erneut dunkel.
Von Roland Schimmelpfennig waren in Berlin seit der Uraufführung von „Vor langer Zeit im Mai“ im Jahr 2000 an der Schaubühne zahlreiche Stücke zu sehen, zur Zeit hat das Deutsche Theater noch „Wintersonnenwende“ und „Idomeneus“ im Repertoire. (Foto: Heike Steinweg)