Es war heute beinahe schon unheimlich still im Zuschauerraum. Sekunden vergingen, ehe sich der Bühnenvorhang hob und die Grande Dame des Deutschen Theaters, Inge Keller, mit der Lesung begann. Darin ging es, kurz gesagt, um eine alleinstehende Frau mit zwei Kindern, die nun zum dritten Mal schwanger wird, jedoch den Vater nicht kennt. Um ihn zu ermitteln, setzt sie eine Annonce in die Zeitung und fordert ihn auf, sich bei ihr zu melden, um ihn zu heiraten. Die Erzählung beginnt wie folgt:
„In M…, einer bedeutenden Stadt im oberen Italien, ließ die verwitwete Marquise von O…., eine Dame von vortrefflichem Ruf, und Mutter von mehreren wohlerzogenen Kindern, durch die Zeitungen bekannt machen: daß sie, ohne ihr Wissen, in andre Umstände gekommen sei, daß der Vater zu dem Kinde, das sie gebären würde, sich melden solle, und daß sie aus Familien-Rücksichten, entschlossen wäre, ihn zu heiraten …“
Inge Keller weiß, wie nur wenige deutsche Schauspieler, ihre Worte, Pausen, Gesten und Mimik wohl zu setzen. Trotz des anspruchsvollen Textes ist es ein Genuss, ihr zu lauschen. Natürlich ist auch der Autor der Erzählung, der präzise Sprache mit komplizierten Satzkonstruktionen bewundernswert unfallfrei verbindet, daran nicht unbeteiligt. Er erzeugt Spannung, obwohl die Handlung Jahrhunderte zurück liegt, wie auch bei dieser Erzählung, die wie folgt beginnt:
„An den Ufern der Havel lebte, um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, ein Roßhändler, Namens Michael Kohlhaas*, Sohn eines Schulmeisters, einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit …“ (Hier geht es im folgenden um das Recht des Einzelnen im Staat und seine schließliche Durchsetzung durch Selbstjustiz)
Beide Erzählungen – „Die Marquise von O….“ und „Michael Kohlhaas“ – stammen aus der Feder von Heinrich von Kleist (1777-1811), deutscher Dramatiker (u.a. „Der zerbrochne Krug“) und Erzähler. Die in jenen beiden gewählten Sujets lassen bereits erahnen, dass er ein „Außenseiter im literarischen Leben seiner Zeit“ war. Immer wieder setzte sich Kleist künstlerisch mit dem Verhältnis von Bürger, Obrigkeit, Recht und Moral auseinander, doch scheiterte er immer wieder am Staat, u.a. durch Aufführungsverbot für „Der Prinz von Homburg„. Dieses, Krankheit und materielle Not führten schließlich zu dem verhängnisvollen Ende. Am 21.11.1811, also vor fast genau 200 Jahren, schied Heinrich von Keist, gemeinsam mit einer Freundin, am Kleinen Wannsee aus dem Leben. Ob der dort befindliche kleine Gedenkstein inzwischen restauriert wurde, ist mir nicht bekannt.
* An die historische Figur des Michael Kohlhase oder Michael Kohlhaas erinnert der kleine Ort Kohlhasenbrück am südwestlichen Zipfel Berlins gelegen.
Nachtrag 19.11.11: Lt. Berliner Zeitung von gestern wurde die Grabstätte am Kleinen Wannsee erneuert und wird am 21.11.11 übergeben.