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19. März 2011 13:42:13

… in Bewegung: Natur und Mensch

Vorgestern nachmittag – ein besonders feiner Nieselregen ging über der Stadt nieder – standen sechs junge Frauen und Männer neben dem Haupteingang zu den Schönhauser Arcaden und baten um Spenden für die Opfer der Katastrophe in Japan. Man sah ihnen die Überwindung an, hier in der Öffentlichkeit lautstark um Hilfe zu bitten, denn die Japaner haben ein anderes Naturell als wir Deutschen. Jeder, der ein paar Euro in ihren Pappkarton warf, bekam einen kleinen, aus rotem Papier gefalteten Kranich, ein dankbares Lächeln und eine Verbeugung geschenkt.

Der Kranich ist auch das Zeichen der Lufthansa, die aufgrund der Nuklearkatastrophe vor einigen Tagen ihren Flugverkehr nach Tokio eingestellt hat. Die vom THW entsandten technischen Spezialisten für Erdbebenhilfe wurden aus demselben Grund nach wenigen Tagen wieder nach Deutschland zurückgeholt. Die US-amerikanische Flotte, die ihren Kurs zwecks Hilfe für die Tsunamigebiete geändert hatte, drehte wegen der Strahlungsgefahr des AKW Fukushima wieder ab. Werden die Japaner in ihrem Unglück allein gelassen oder ist die Angst vor der Atomkatastrophe so groß, dass man keine weiteren Menschen in dieses Gebiet schicken kann? Zweifellos ist die Gefahr riesengroß, unkalkulierbar und dennoch müssen Menschen, wie in Tschernobyl, diesem Gefahrenmoloch zu Leibe rücken. Der Mensch hier will wissen, was 9000 Kilometer weiter geschieht und schaltet deshalb morgens, wenn sich in Japan der Tag dem Ende neigt, den Fernseher an. Aber manchmal will man auch nicht die ganze Wahrheit erfahren.

Homo Sapiens hat mit dem Gebrauch des Feuers, dem Buchdruck, der Dampfmaschine, dem Auto, Flugzeug und Computer immer wieder Erfindungen gemacht oder Fertigkeiten erlernt, die ihm das Überleben und den Fortschritt ermöglichten. Der Mensch hat aber gleichzeitig die Erde so verändert, dass Leben auf ihr vernichtet, Umwelt beeinträchtigt und seine Zukunft fragiler geworden ist. Mit der Kernspaltung und ihrer Anwendung hat er schließlich eine Entdeckung gemacht, die ihn um seine Existenz bringen kann. Obwohl es kaum noch Atomwaffentests gibt, existieren doch noch Unmengen solcher Waffen. Auf der Jagd nach Energiequellen hat aber der Mensch auch der sogenannten friedlichen Nutzung der Atomkraft Raum gegeben und Atomkraftwerke gebaut, obwohl die hier ablaufenden – gegebenenfalls hunderte von Jahren dauernden – Prozesse, einschließlich der Entsorgung, nicht beherrscht werden. Es ist mir gleich, wer in Deutschland die Atomkraftwerke abschaltet, wenn es nur geschieht. Aber man sollte jene im Auge behalten, die – uns für dumm verkaufen wollen – jetzt immer noch oder irgendwann wieder davon sprechen wollen, dass die Atomkraft beherrschbar sei. Die menschliche Hybris stößt an eine Grenze, die man nicht überschreiten darf. Wird der Mensch sich jetzt, angesichts der Ereignisse in Fukushima, dessen endlich bewusst?

Die japanische Botschaft liegt am heutigen Morgen in mildem Sonnenschein. Der Gebäudekomplex in der Hiroshimastraße Nr. 6 macht einen architektonisch strengen, ja fast preußischen, Eindruck. Die mächtige, noch blätterlose, Platane auf dem Botschaftsgelände erscheint wie ein riesiger, stummer Wächter. Neben dem Eingang zur Botschaft befindet sich, auf einem sauber begrenzten Viereck, ein Meer von Blumen, Kerzen und anteilnehmenden Karten und Briefen. Die Straße ist menschenleer, aber ein paar Meter weiter im Tiergarten bewegen sich ein paar Jogger in den frühlingshaften Tag.

 

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8. März 2011 20:08:31

… Augenblicke: Fahrradgeschichten

Er war mit Fahrrad, Quast und einem Eimer voller Leim in der Torstraße unterwegs, aber angesprochen habe ich ihn wegen seines offenen Gesichts. Der Mann – er räumte mir fünf Minuten ein, es wurden dann aber ein paar mehr – war mit einem braun-beige quergestreiften Pullover, der seine hagere Figur umhüllte, bekleidet. Das längliche Gesicht mit dem Fünftagebart und der schon etwas lichten Kopfbehaarung erinnerte mich ein wenig an die Heiligenbilder des spanischen Malers El Greco. Francisco stammt nun tatsächlich aus Almeria/Spanien und lebt, zusammen mit seiner deutschen Freundin und ihrem gemeinsamen „Berliner Baby“, wie er freudestrahlend formulierte, seit zwei Jahren in der Stadt. Er wohnt in Prenzlauer Berg, wo es ihm gut gefällt. Sein Deutsch, obwohl wir uns ganz passabel verständigen konnten, klingt noch etwas lückenhaft und kann weitere Sprachpraxis sicher vertragen. Von Beruf ist der junge Mann (Jahrgang 1976) eigentlich Klimaanlagenmonteur – die Arbeitsplatzsituation in seiner Heimat wäre zur Zeit kompliziert -, hat aber auch schon als Hausmeister gearbeitet. Hier in Berlin klebt er nun – angestellt bei einer Firma – zunächst einmal für sechs bis acht Stunden pro Tag (acht Euro/Stunde) Plakate. Wenn ich richtig informiert bin, werden aber Klimamonteure zur Zeit hier wirklich gesucht – besonders interessiert Francisco aber die Solartechnik.

Beide waren mit dem Fahrrad zum Bäcker gekommen, sprachen ausschließlich russisch und setzten sich an den Nachbartisch. Der Vater, um die 35 Jahre alt, der Sohn vielleicht schon sechs Jahre auf dieser Welt. Obwohl ich neugierig zu ihnen rübersah, erwiderten sie meinen Kontaktblick keineswegs. Der Mann hatte ein, ja, mädchenhaftes, ebenmäßiges Gesicht und sprach mit sanfter Stimme auf seinen Sohn ein, der sich nicht entscheiden konnte, welchen Pfannkuchen er nun wollte. Zuerst: Ich will nicht – dann aber zu dem mit Schokolade: Ich will. Der Junge sprach laut, fast ein wenig herrisch – vom Vater konnte er das nicht haben. Blieb also nur die (nicht anwesende) Mutter.

Schon immer wollte ich mal einen Fahrradkurier befragen – und nun kam einer in’s Cafe und machte Pause. Richard, 44 Jahre alt, sprach deutsch mit einem Akzent. Bevor ich selber drauf kam, erzählte er mir, dass er in der Tschechoslowakei geboren, aber nunmehr Schweizer Staatsbürger sei. Sein Vater ging 1968 (nicht aus politischen Gründen) in die Schweiz. Frau und Sohn Richard wurden nachgeholt. Seit zwei Jahren fährt der drahtig und frisch wirkende Mann durch die Stadt, auch im Winter (ohne Erschwerniszulage), im Schnitt so an die 80 km pro Tag. Er arbeitet als Selbständiger, zusammen mit ca. 60 Kollegen. Seine Aufträge, über Sprechfunk – das Gerät blieb während unseres Gesprächs eingeschaltet – erteilt, führen ihn kreuz und quer, wenn es sein muss, von Zehlendorf nach Pankow. Für ihn ist dieser harte Job eine Selbsterfahrung, eine Berufung eher nicht. Dennoch, meint er, kann man davon leben, zumal er mit zwei anderen zusammen in einer WG in, richtig, Prenzlauer Berg wohnt. Richard ist von Beruf Lehrer für Kunst/Kunsthandwerk und wird wohl in Kürze hier in der Stadt, die ihm ausnehmend gut gefällt, wieder in sein Metier zurückkehren. Er wirkte durchaus nicht gestresst, antwortete auf meine Fragen sehr überlegt; es wäre interessant gewesen, das Gespräch fortzusetzen, aber wir mussten beide wieder weiter.

 

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6. März 2011 11:25:21

… erstaunlich: „The New York Times“ entdeckt jetzt Fallada

In der vergangenen Woche entdeckte ich ihn im Schaufenster eines Bücherladens: Hans Falladas Roman „Jeder stirbt für sich allein“. „Ein literarisches Großereignis“ meint dazu „The New York Times“ auf dem Werbeflyer des Aufbau-Verlages. Ich habe das Buch (Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1. Auflage 1981) schon vor einigen Jahren gelesen. Die Erstausgabe erschien 1947 ebenfalls dort.

Einige kennen ihn gar nicht: Hans Fallada (Rudolf Ditzen). Er schrieb in „Ein Mann will nach oben“ so anschaulich über Berlin, als ob er immer in dieser Stadt gelebt hätte. Wenn man eines seiner Bücher, wie eben jenes über das Berlin rund um den Stettiner Bahnhof (heute DB-Neubauten bzw. Nordbahnhof) oder anderes gelesen hat, wird man viele seiner Helden nicht mehr vergessen: Pagel, Lämmchen, Karl Siebrecht, Anna und Otto Quangel und viele andere. Seine Protagonisten haben immer etwas von ihm, von seinem Leben voller existentieller Unsicherheit, Verzweiflung, Sehnsucht, Lust, aber auch der Gutwilligkeit und Gutgläubigkeit. Hans Fallada erzählt in seinen Romanen über das flirrende oder ganz gewöhnliche Leben, er läßt Menschen abstürzen und wieder aufstehen, durchmisst die Irrungen, Ängste und die Not eines Getriebenen, der er selber immer war. Aber er beschreibt auch den Optimismus, das Streben und Glück seiner Helden, dieses wunderbare Durchhalten und Ankommen, welches er mit lebendiger und oft meisterhafter Sprache dem Leser ans Herz führt. Fallada selbst war anscheinend immer nur Gast in seinen Lebensstationen, in Verzweiflung und verzehrendem Suchen nach Halt. Was er sich im Leben in nur geringem Maße schuf und fand, lebt in seinen Büchern. Fast möchte man meinen: Je schlechter es in und um ihn war, umso besser schrieb er.

Hier nur Beispiele: In „Der eiserne Gustav“ läßt Fallada seinen Held Gustav Hackendahl in der Zeit des aufkommenden und obsiegenden Automobils mit der Droschke von Berlin nach Paris kutschieren. Der alte Hackendahl will sich mit Tradition gegenüber dem Neuen behaupten, seiner Familie auch weiterhin Halt und Vorbild sein. Wolfgang Pagel – in der Verfilmung (TV DDR) von „Wolf unter Wölfen“ (1965) mit dem jungen Armin Mueller-Stahl – schlägt sich in der Zeit der Inflation und Wirtschaftskrise 1922/23 durch das Leben und gerät in die Wirren dieser Zeit. „Kleiner Mann, was nun“, der Roman, durch den Fallada weltberühmt wurde und der von der zähen Überlebenskraft der „kleinen Leute“ erzählt (TV DDR 1967 mit der großartigen Jutta Hoffmann als Lämmchen, TV BRD 1973) und schließlich „Jeder stirbt für sich allein“, 1947 in wenigen Wochen geschrieben. Dieser Roman erzählt in dichter Form – teilweise auf Tatsachen beruhend – über ein älteres Berliner Ehepaar, welches in der Nazizeit seinen persönlichen Widerstand geleistet hat. Dieses Buch – Fallada schrieb es, obwohl bereits sehr krank – ist spannend wie ein Krimi – es wurde in BRD/DDR insgesamt dreimal verfilmt – aber schlussendlich auch ein Leseereignis bedrückendster und berührenster Art. Der, durch Ereignisse der letzten 22 Jahre nun andere, Aufbau-Verlag hat jetzt dieses Buch in „ungekürzter Originalfassung“ (Aufbau-Verlag) herausgebracht.

Fallada starb 1947. Seine Bücher sind aber auch heute lesenswert, einige Filme in jeder guten Videothek auszuleihen. Abschließender Tipp: Der Besuch der Hans-Fallada-Gedenkstätte in Carwitz (Nähe Feldberg) und der schönen Umgebung ist empfehlenswert.

 

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3. März 2011 19:03:37

… Augenblicke: Schönhauser Allee 2. März 2011

Beide brauchen die Sonne: Der Mensch und die Solarzelle. Während letztere vielen Eigenheimbesitzern und mancher Behörde die Energiebilanz – zumindest auf den ersten Blick – jetzt wieder verbessert, wird Männchen und Weibchen durch die ersten, Frühling vortäuschenden, intensiveren Strahlen munterer und aktiver. Im Jahn-Sportpark an der Cantianstraße drehen, wetterbedingt, nun mehr Läufer ihre Runden. (Mancher) Mann strengt sich an, um die Läuferin vor ihm zu überholen, schon um zu überprüfen, ob die Fassade hält, was die Rückfront verspricht. – Die Schönhauser bietet wieder den üblichen, regen Verkehr, denn die Bauarbeiten am „Magistratsschirm“ sind fast beendet; nur unterhalb der Trasse sind noch eingezäunte Bereiche. Die Stahlkonstruktion des U-Bahn-Viadukts strahlt in einem wunderbar satten Olivgrün, dass gut zum Gelb der U-Bahn passt. Da haben sie uns ein kerniges, solides Bauwerk hinterlassen, die Väter (hier: Architekt Alfred Grenander) unserer Stadt. Jeder Niet, jeder Stützpfeiler, jeder Bahnhof – erhaltenswerte Arbeit und Industriearchitektur . Ach, wären wir (Deutschen) doch immer nur damit aufgefallen! – An der Ecke Kastanienallee/Schönhauser hat sich Konnopke provisorisch eingerichtet. Den Würsten ist der Standort egal, den meisten Kunden vielleicht auch. Im Jahr 2030 feiert das Geschäft jedenfalls seinen 100. Geburtstag. Wenn es mit seinem Neubau erst wieder am alten Standplatz ist, werden die paar Jahre bis dahin einfach verbraten. – Eine Kindergruppe trottelt auf dem Bürgersteig entlang: Die Kleinen zu dritt nebeneinander, Handschuh in Handschuh; die selbständigeren, neugierigeren Knirpse vorne, die schüchternen Nesthäkchen hinten bei der Kita-Tante. – Ein paar Meter weiter wirbt der trutzige, gelbbeigefarbene Klinkerturm des Frannz-Clubs mit Veranstaltungen. Seitwärts am schmiedeeisernen Zaun in der Sredzkistraße hängen die Losungen für die anzulockende oder in der Nähe wohnende Kundschaft: „Guten Morgen, Yoga 7:30“ und „Design denken, Grün handeln“. – Auf der anderen Straßenseite (Nr. 161) hüllt sich das Stadtkloster Segen in ein Baugerüst. Dennoch kann man den Innenhof betreten, der beeindruckt. – In den Nebenstraßen sind überall Politessen unterwegs. Sie scheinen sich in der Stadt ständig zu vermehren, nicht nur in Prenzlauer Berg, wo man im Herbst letzten Jahres die Parkraumbewirtschaftung eingeführt hat. – Es sind schon ein paar Radler mehr, die bei diesem Wetter die Schönhauser Richtung Torstraße runterkacheln. Sie alle müssen am Stadtbad Prenzlauer Berg – seitwärts, unbeachtet in der Oderberger Straße gelegen – vorbei; ein architektonisches Kleinod vor dem Verfall?! – In einem Geschäft läuft auf einem TV-Regionalsender eine Diskussion über Berliner Bildungspolitik. Partei- und Funktionärsgesichter äußern oft gehörtes und reden aneinander und an Problemlösungen vorbei. Eine, schon leicht angespannt wirkende, Dame vom „Tagesspiegel“ versucht zu moderieren. Ich meine: Im Bereich Bildung, Schule und Studium wäre in Deutschland mal eine Revolution fällig. Aber das ist schon wieder ein anderes Thema.

 

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24. Februar 2011 23:43:53

… für Gerechtigkeit. Berliner Lektion mit Baltasar Garzón

Baltazar Garzón. (c) Instituto Cervantes. Madrid 2007

Baltasar Garzón. (c) Instituto Cervantes. Madrid 2007

Universelle Jurisdiktion ist der Rechtsgrundsatz, für den der spanische Untersuchungsrichter an der Audiencia Nacional Baltasar Garzón Real so leidenschaftlich eintrat, dass es ihn sein Amt kostete. 2009 reichte die ultrarechte Beamtengewerkschaft Manos Limpias Klage wegen angeblicher Rechtsbeugung ein, im April 2010 wurde das Hauptverfahren eröffnet, seit Mai 2010 ist Garzón von seinem Richteramt suspendiert. Für den 56jährigen dürfte das das Ende seiner Karriere in der spanischen Justizverwaltung sein. Doch jedes Ding hat zwei Seiten, erklärt Garzón geradezu launig vor dem ausverkauften Saal des Renaissance-Theaters am vergangenen Sonntag. So habe er nun Zeit, seine Beratertätigkeit am Internationalen Strafgerichtshof auszuüben, zu der ihn Luis Moreno Ocampo, der Leiter der Anklagebehörde des IStGH einlud.

Gerechtigkeit und der Appell an die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft sind die Mission des Richters, der in seinem eigenen Engagement nie zimperlich war. Wenn es um die Menschenrechte geht, kennt er, der 1993 selbst ein politisches Intermezzo als Staatssekretär der PSOE in der Regierung Felipe González einschob, weder parteiliche noch ideologische Loyalitäten. Er ermittelte gegen die Todesschwadrone der spanischen Untergrundeinheit GAL ebenso, wie gegen die baskische ETA, gegen Pinochet wie gegen die US-Sonderjustiz in Guantanamo, überzeugt, dass internationale Rechtssprechung greifen muss, wenn die nationale Justiz versagt oder untätig ist, oder, wie in Argentinien, Schlussstrichgesetze verhindern, dass die Folter und das Verschwindenlassen der Militärjuntas nach 1976 ungesühnt bleiben. Garzón tritt kompromisslos für die Pflicht zum globalen Handeln ein. Die drei Säulen der institutionalisierten Gerechtigkeit, so erläutert er in Berlin, seien: 1. die Tatsache, dass es für die Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit – wie übrigens bei der Bekämpfung von Terrorismus und Drogenhandel praktiziert – keine territorialen Grenzen geben darf; 2. die Anerkennung des Prinzips des universellen Opfers, d.h. dass Straftaten dieser Dimension grundsätzlich zu ahnden sind, unabhängig von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen und unabhängig davon, wo das Verbrechen geschieht; was 3. impliziert, dass gemäß dem Grundsatz der universalen Jurisdiktion die Strafverfolgung international – durch Ad-hoc Tribunale, Sondertribunale oder den IStGH – erfolgen muss, wenn die lokale Gerichtsbarkeit nicht greift oder nicht greifen will.

Mit der diplomatischen Unruhe, die Garzóns juristische Interventionen in aller Welt mit sich brachten, hätte Spanien vermutlich leben können. Am Ende musste er gehen, weil er es wagte, im eigenen Land das Tuch zu lüpfen, mit dem seit dem Amnestiegesetz des Jahres 1977 die Zeit der Franco-Diktatur bedeckt worden war. Zwar hatte man akzeptiert, dass der umtriebige Richter die Aufhebung der Immunität Silvio Berlusconis beantragte und den Tod des spanischen Reporters Couso durch US-amerikanische Schüsse auf das Hotel Palestine in Badgad untersuchte, doch den Blick auf das eigene Land und dessen frankistische Vergangenheit wollte man nicht mehr goutieren.

Vergessen ist jedoch keine Option, wenn die Menschenrechte auf dem Spiel stehen, wenn Kriegsverbrechen, Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt werden. Davon ist Baltasar Garzón überzeugt, und dafür wird er sich weiter streitbar und unermüdlich weit aus dem Fenster lehnen. Wenn nicht als Beamter eines spanischen Gerichts, dann als Berater am Internationalen Strafgerichtshof, als Manuel Rivas Interviewpartner in Isabel Coixets Dokumentarfilm Escuchando al Juez Garzón oder als eloquenter Redner bei den Berliner Lektionen. Es geschieht zu viel Unrecht in der Welt. Einmischung ist unerlässlich!

Zum Videostream der Berliner Lektionen vom 20. Februar 2011

 
 

22. Februar 2011 17:59:12

…nie verzweifelt! Ein verspäteter Berlinaleblick auf den türkischen Wettbewerbsbeitrag Bizim Büyük Caresizligimiz

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„Büyük“ heißt „groß“ auf Türkisch, im Gegensatz zu „kücük“, was „klein“ heißt. Ich stelle das voran, weil ich erstens beide Worte schön finde und zweitens nicht genau weiß, warum Seyfi Teomans Berlinale-Beitrag Our Grand Despair „Die große Verzweiflung“ heißt. Eigentlich verzweifelt niemand in diesem Film. Jedenfalls nicht mehr, als jede von uns am Leben verzweifeln kann. Andererseits: Hier stellt ein Eindringling eine eingespielte Situation drastisch auf den Kopf. In die zweisamen Idylle, die sich die nicht erwachsen werden wollenden Singles Ender (Ilker Aksum) und Cetin (Fatih Al) geschaffen haben, platzt die zwanzigjährige Nihal (Günes Sayin). Fikret (Baki Davrak), einst der Dritte im Männerbunde, jetzt in Berlin lebend, vertraut nach dem tragischen Unfalltod der Eltern den beiden (Ex-)Kumpels seine „kleine“ Schwester an. Cetin weiß, wie man sich fühlt, wenn man plötzlich Waise wird: er war acht Jahre, als seine Eltern ebenfalls bei einem Unfall starben. Viel weiter geht sein Einfühlungsvermögen jedoch nicht. Denn die Idee, nach dem Studium zusammenzuziehen und die Kinderfreundschaft weiter zu leben, bedeutet Cetin und Ender viel: hauptsächlich gemeinsames Einkaufen, Kochen und „Chillen“. Sie könnten ein ewig verheiratetes Heteropaar sein. Oder auch schwul. Mit eher gedämpfter Erotik im Alltag, wenngleich ihre Beziehung durchaus eine erotische Komponente hat. Sie haben sich eingerichtet, im tristen Ankara, das keiner von ihnen mehr verlassen möchte: Ankara im Winter, Ankara im Sommer. Die Uhr tickt, aber weder ändert sich der Musikgeschmack der beiden, noch ihre kulinarischen Präferenzen. Das Leben findet offenbar irgendwo anders statt, ohne dass sie das stören würde.

Und dann steht sie vor der Tür: Nihal. Traumatisiert nach dem abrupten Verlust der Kindheit, abgeschoben zu zwei schrulligen Enddreißigern, deren Erfahrungen mit Frauen sich auf kurze Intermezzi während des Studiums beschränken. Fast unnötig zu sagen, dass sie sich in der Schule geschworen haben, sich in die gleiche Frau zu verlieben. Bisher hat das nicht geklappt.

Nihal, die zarte, traurige und doch im richtigen Leben verankerte Zwanzigjährige, wirbelt den emotionalen Dämmstoff nun heftig auf. Nicht nur, dass sie für beide Männer eine große Versuchung darstellt: Sie selbst fühlt sich von ihren beiden neuen „Vätern“ angezogen. Sie sieht in ihnen nicht nur Ersatzbrüder sondern – wie beide überrascht feststellen – auch den Mann.

Ein spannender Film mit einer scheinbar banalen Geschichte. Denn so sensible und zugleich wahrhaftige Männerfiguren sieht man im Kino selten. Nicht, dass Ender und Cetin keine Wünsche hätten. Aber sie empfinden diese in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit, und vor der Realisierung bewahrt sie die Gewissheit, dass es gut ist, wie es ist. Den cineastischen Genuss stört auch nicht die auf halber Strecke dämmernde Erkenntnis, dass dieser Film keinen abrupten Bruch haben wird: Keiner wird den Freund für die Frau aufgeben, und diese wird nicht versuchen, einen von beiden – oder gar beide – zu verführen. Man schaut ihn gern, in all seiner Trivialität. Man fühlt mit der leisen Wehmut der Protagonisten, ihrer Sehnsucht nach den mit der Jugend vergangenen Träumen, dem Sichabfinden mit genau diesem Leben. Irgendwann im Film gibt es eine Studentendemo für bessere Bildung. Ender kommt vorbei und klatscht ein bisschen mit. Aber die Rebellion oder die laute Klage sind seine Sache nicht. Er braucht Cetin, dessen zärtlicher Optimismus ihn immer wieder vor der Verzweiflung bewahrt. Er braucht den Lieblingssessel und viele Bücher im Regal, Ankara im Winter, Ankara im Sommer. Auch Cetin braucht nicht mehr als das. Ein leiser Film, sagt man wohl. Der berührt, obwohl eigentlich nichts passiert.

 
 

22. Februar 2011 10:05:31

… staunenswert: Berliner Naturwunder

Man sollte es nicht glauben, aber auch in Berlin – mitten unter uns – gibt es für den Naturforscher immer wieder etwas zu entdecken. Bisher kannte man nur von Eidechsen (Lacertidae), dass sie in Momenten höchster Gefahr ihren Schwanz teilweise oder ganz abwerfen können, um dann der Bedrohung zu entkommen. Bei den Menschen ist diese Eigenschaft, allerdings eher bezogen auf geistige Leistungen und den eigenen Lebenslauf, schon lange bekannt. Man kann sich an dieses und jenes nicht erinnern, wirft es quasi aus seinem Leben, wie ein kümmernder Jungvogel von seinen Nestgeschwistern oder wie ein Mieter von seinem habgierigen Hauseigentümer. Jetzt ist es durch die unermüdliche, größtenteils unbezahlte, Arbeit von Profis und Laienforschern erneut gelungen, bei einem Menschen festzustellen, wie er zunächst fremde Gedanken zu eigenen machte, und sich aber dann von dem – in materieller Gestalt bereits vorliegenden – Produkt seiner geistigen Tätigkeit distanziert, ja nichts mehr von ihr wissen will. Er gibt den damit erworbenen Titel an jene zurück, von denen er dafür einst großes Lob erntete. Nun, Undank ist der Welten Lohn, Geschmeidigkeit die wahre Währung unserer Zeit. Hoch lebe er, der Homo sapiens lacertidanus!

 

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Alltägliches

 

16. Februar 2011 09:49:15

… wörtlich: Gysi, Gast und Goldfisch

„Im Anfang war das Wort“. (Ein Satz wie ein Felsen). „Rede mit mir“, bittet der fremdgängerische Mann seine Ehefrau. „Der Worte sind genug gewechselt, lasst mich auch endlich Taten sehen!“, meint Goethes Direktor im „Faust I“. Widersprüchliches: Halte den Mund, aber gib mir Dein Wort. Thomas Gottschalk macht nun beides und beendet seine „Wetten das“-Laufbahn, die ja auch vor allem eine Lizenz zum Reden, zum Fragen enthielt.

Das Deutsche Theater veranstaltet seit geraumer Zeit die Gesprächsreihe „Gregor Gysi trifft Zeitgenossen“. Gysi und sein jeweiliger Gast präsentieren sich an ausgewählten Sonntagen um 11.00 auf der Bühne und reden miteinander. Zeugen dieses Gesprächs sind zwei, munter in einem Aquarium schwimmende, Goldfische und ein, in aller Regel, vollbesetzter Zuschauersaal. Gysi gibt hier nicht den Parteipolitiker, sondern nahezu ausschließlich den freundlichen, gut vorbereiteten Gastgeber, der sowohl dem Bühnenquartett, als auch dem Publikum das Gefühl vermittelt, einem besonderen Sonntagvormittag beizuwohnen. Auf der Bühne regiert die höfliche Distanz, die bohrende Frage, das nachdenkliche Gesicht, der übersprudelnde Mund, das phänomenale Gedächtnis, die überraschende Information, der gut erzählte Witz, die genuschelte Erklärung, die stumme Betroffenheit und manchmal ein reiches, im Zeitraffer erzähltes, Leben. Ein einziger Mensch steht hier im Mittelpunkt und ein anderer – jenseits aller Hektik – befragt ihn. Gysi hangelt sich mit seinen Fragen am Lebenslauf seines Partners entlang, besucht auch die Nebenstationen und hinterfragt Motive und Gefühle. Das ermöglicht Aufmerksamkeit, füllt die Bühne und beansprucht Kopf und Herz des Zuschauers hinreichend. Das Gespräch bringt ihn zum Staunen, Nachdenken, Lachen und entlässt ihn nach gut zwei Stunden verändert in den Tag.

Die Liste der bisher eingeladenen Gäste ist lang und vielsagend. Um nur einige zu nennen: Klaus Maria Brandauer, Kurt Maetzig, Peter Scholl-Latour, Wladimir Kaminer, Hape Kerkeling, Thomas Langhoff, Wolfgang Kohlhaase, Roger Willemsen und jüngst Mario Adorf. Besonders interessant war es immer dann, wenn dem Prominenten etwas entlockt werden konnte, was er nicht schon mal im Fernsehen von sich gegeben hat. Das gelingt oft gut, denn eine Kamera ist hier nicht dabei. Eine überproportionierte Selbstdarstellung musste man bei dieser Gesprächsreihe bisher selten erleben, aber auch sie gehöre dazu.

Die Veranstaltungen sind, wie nicht verwunderlich, lange vor dem Termin ausverkauft. Dass ich mit diesem Text die Karten-Chancen nicht gerade verbessere, liegt auf der Hand. Aber: Auf Qualität muss man hinweisen. Das nächste Gespräch findet am 27. März 2011 statt. (Eintritt: 8,- €uro) Gast ist der frühere sowjetische Botschafter (1971-78 in der BRD), Diplomat und jetzige Journalist Valentin Falin.

 

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15. Februar 2011 20:47:12

… auf der Höhe des Feuilleton: An Experiment With An Air Pump im English Theatre Berlin

Es geht um die ethischen Implikationen des Fortschritts in der Wissenschaft: Sollten wir das, was wir können auch anwenden, oder sollten wir es gerade lassen, weil wir es können? Das englischsprachige Stück, das nun am English Theatre Berlin in der Reihe „Theatre & Sience“ aufgeführt wird, nähert sich diesen Fragen auf zwei zeitlichen Ebenen, einmal historisch (vor ca. 200 Jahren) und einmal in der Gegenwart. Es werden parallel zwei Geschichten erzählt, wobei geschickt von einer Zeit in die nächste und wieder zurück gewechselt (fast alle Schauspieler sind doppelt in beiden Zeiten besetzt) und mit den Rollenbildern gespielt wird. Sehr pointiert wird die ethisch moralische Frage in der gegenwärtigen Geschichte aufgegriffen, in der eine Wissenschaftlerin einen finanziell wie perspektivisch interessanten Job im Umfeld der PID (Präimplantationsdiagnostik) angeboten bekommt. Wie soll sie sich entscheiden, was spricht dafür, was dagegen? Die Fragen, die sonst meist aus der Sicht der Eltern oder von Betroffenen gestellt werden (siehe Artikel in Die Zeit „Drum prüfe wer sich bindet“), liegen hier einmal unbeantwortet auf dem Tisch einer Wissenschaftlerin.

Rund um die Aufführungen von An Experiment With An Air Pump werden begleitende Diskussionsrunden und Vorträge veranstaltet, bei denen sich auch das Publikum zu genau diesen Themen äußerm kann.

Februar 2011: 8 – 11 | 15 – 19 | 22 – 27 (The performances on February 15th and 22nd start at 7pm and will be followed by a discussion with cast, director and Prof. Hengge. All other performances start at 8pm.)

Kleiner Mitschnitt der Premiere:
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